Die Plantage: Roman (German Edition)
ein lockeres Ensemble aus Institutsgebäuden und Wohnhäusern zwischen getrimmten Rasenflächen und Eichenbäumen. Antonia kam gerne ins Universitätsviertel. Sie schätzte die klassische Architektur der Kollegiengebäude, deren klare Formgebung den Anspruch einer humanistischen Bildung widerspiegelte, der sich Lehrende wie Studierende der aufgeklärten Liberal Education verpflichtet fühlten.
Sie schlenderte über das Campus Green, bei der Randolph Hall wandte sie sich Richtung Calhoun Street. Hier kannte sie sich gut aus, Mitte der Siebzigerjahre hatte sie viel Zeit in den Buchhandlungen und Leihbüchereien des College Quarter verbracht. Einmal, beim Stöbern in den Bücherkisten, war sie mit einem jungen Gastdozenten ins Gespräch gekommen, Henry Lorimer aus Boston. Weil er ihre Literaturbegeisterung teilte, erbot er sich, vergriffene oder zensierte Bücher für sie zu besorgen. Er versprach, für sie bis ans Ende der bekannten Bücherwelt zu gehen, wenn sie ihm erlaubte, die Schätze seiner literarischen Piraterie persönlich nach Legacy zu bringen. Lydia hatte damals behauptet, Antonia habe sich in eine Kiste alter Bücher verliebt, in der sie durch glücklichen Zufall auch einen Ehemann gefunden habe.
Antonia warf im Vorbeigehen einen Blick in die Auslagen der Antiquariate in der St. Philip Street. Ihr eigentliches Ziel war ein kleiner Laden für Schreibzeug, »Ink, Quills & Parchment« stand über dem Eingang. Das Geschäft war eine Institution im College Quarter. Im Schaufenster lagen Schreibfedern, die der Inhaber Mr. Berling, ein Ästhet und Schöngeist, wie kostbare Schmuckstücke auf einer samtenen Unterlage präsentierte. Antonia betrat den Verkaufsraum, der von deckenhohen Regalreihen in schmale Gänge unterteilt war. Sie suchte sich gebündelte Federkiele und Siegellack aus offenen Kartons. In einem Bord mit Flaschen farbiger Tinte fand sie mit sicherem Griff ihre bevorzugte Nuance eines dunklen Violetts. Dann ließ sie sich von Berling verschiedene Metallschreibfedern vorlegen. Um das Schriftbild und unterschiedliche Strichstärken vergleichen zu können, setzte sie sich an ein Schreibpult und probierte die Federn nacheinander aus.
Es kamen etliche Kunden in den Laden, die meisten ließen sich ein oder zwei Ries Schreibpapier auf Folio- oder Quartformate zuschneiden. Antonia war auf ihre Schriftproben konzentriert und bemerkte nicht, dass sie die Aufmerksamkeiteines Mannes auf sich gezogen hatte, der kurz nach ihr den Laden betreten hatte.
Algernon Reed hatte ihre Stimme erkannt, als sie mit Berling sprach. Während sie nun Zeile um Zeile auf schmale Streifen Korrekturpapier schrieb, stand er nur wenige Schritte von ihr entfernt und betrachtete sie hingerissen. Jede Nuance ihrer Erscheinung nahm er in sich auf, die Neigung ihres Kopfes, die Rundung von Schultern und Armen, den seidigen Schimmer des grauen Taftkleides, das sich um ihre Hüften bauschte. Selbst den Schwung der Feder in ihrer Hand prägte er sich ein, um den Anblick nie mehr zu vergessen.
Er hätte für immer so stehen bleiben und ihr zusehen mögen. Da bemerkte er, wie ein paar Streifen Papier, die ihrer schreibenden Hand im Weg lagen, von ihr beiseitegeschoben wurden und über den Rand des Pultes zu Boden fielen. Während sie eine neue Feder ins Tintenglas tauchte, verließ er seinen Beobachtungsposten und näherte sich ihrem Platz. Er atmete den puderigen Duft ihres Parfums ein und stand einen Moment ganz still, indem er sich vorstellte, wie er ihr Haar und ihre Wange mit den Lippen berührte. Antonia indessen schrieb selbstvergessen Zeile um Zeile, nicht ahnend, wie nah er ihr war.
Neben dem Pult, direkt vor seinen Schuhspitzen lagen die zu Boden gefallenen Papierstreifen. Er beugte sich auf ein Knie herab, hob sie auf und las, was Antonia geschrieben hatte. Er stutzte, las den ersten Papierstreifen noch einmal, dann den zweiten, den dritten. Als ihm bewusst wurde, dass das kratzende Geräusch der Schreibfeder verstummt war, sah er langsam auf.
Antonia starrte ihn entgeistert an. Wie lange war er schon da? Und was tat er hier, neben ihrem Pult? Sie sah die Papierstreifen in seiner Hand und hörte, wie er vorlas: »›Es beginnt wie es endet, zur rechten Zeit am rechten Ort.‹ – Glauben Sie etwa, was Sie hier geschrieben haben?«
»Wieso interessiert Sie das?« Sie zerriss die letzten Schriftproben.»Es ist nicht sehr höflich, Mr. Reed, die Notizen anderer Leute zu lesen.«
»Die Blätter lagen am Boden, jeder hätte
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