Die Plastikfresser
Armaturengehäuse sind aus Polypropylen gepreßt, die Fensterdichtungen aus besonders zähem PVC. Das alles bietet Nahrung für Millionen Generationen des Mutanten 59.
Ganz allmählich, an vielen Stellen unbemerkt, eroberte der Mutant das Flugzeug. Auf der Toilette weichte ein Schild mit der Aufschrift ›Bitte Handtücher benutzen‹ zusammen, wobei die Buchstaben sich immer mehr in die Länge zogen, je tiefer die Rückfläche absackte.
Neben einem Passagier, der die Toilette aufgesucht hatte, begann sich die Fensterdichtung auszudehen und zu verformen. Bei einem anderen flachten sich unter dem Körpergewicht die Plastiksohlen seiner Schuhe ab.
Im Cockpit saßen die Männer der Crew in tiefem Schweigen auf ihren Plätzen, als Kramer geendet hatte. Nur der erste Copilot, der das Flugzeug steuerte und unablässig die Vielzahl der Instrumente vor sich beobachtete, wirkte unbeeindruckt.
Howard klopfte sich mit dem Knöchel seines Daumens gegen die Zähne und dachte angestrengt nach. »Wenn wir die Leute auf ihren Plätzen halten können – wenn niemand sich vom Fleck rührt – können wir in New York landen und …«
»Nicht New York, nicht der Kennedy-Flughafen«, sagte Kramer entschieden. »Begreifen Sie nicht, daß wir alle infiziert sind.«
»Wir müssen in Quarantäne?« fragte der Copilot.
»Richtig. Wir müssen uns einer vollständigen Entseuchung unterziehen …«
Howard unterbrach ihn: »Dann kommt vielleicht Taor Creek in Frage.«
»Was ist das?«
»Eine Notlandebahn ungefähr sechzig Kilometer südlich von Boston, an der Küste.«
»Wir brauchen eine vollständige Behandlung.« Kramer zählte die Einzelheiten an seiner Hand auf: »Jeder Passagier muß seine Kleider ablegen, muß unter eine Spezialdusche, muß seine Kleider sterileren lassen. Das Gelände rund um das Flugzeug muß abgesperrt werden …«
»Wer, zum Teufel, soll das alles durchführen?« Howard dachte laut. »Die Sanitätsbehörden im Flughafen sind doch dafür gar nicht ausgerüstet.«
»Es gibt Dugway.«
»Was ist das?«
»Die Testanlage von Dugway. Ein Versuchsgelände für bakteriologische Kriegsführung. Von dort könnten mit Hubschraubern Spezialisten nach Taor Creek geschickt werden.« Er lächelte bitter. »Damit könnten die zum erstenmal auch etwas zum Wohl der Menschheit tun.«
Die Fensterdichtung neben der Frau zerfloß und breitete sich über die Rahmenwandung aus. Es folgte jedoch keine Explosion, kein Geräusch.
Fenster in einem Düsenflugzeug sind eine Konzession der Designer an die Passagiere. Die Designer würden lieber Flugzeuge ohne Fenster konstruieren, da Fenster nur die Kosten erhöhen und die Rumpfstruktur schwachen.
Jedes Fenster besteht aus drei oder vier Lagen durchsichtigen Plastikmaterials, und jede Lage ist einzeln mit der umgebenden Rumpfstruktur versiegelt. Zwischen den inneren Schichten zirkuliert Luft, die aus den beiden Kompressoren unter der Kanzel kommt. Die Luft, die denselben Druck wie im Innern des Flugzeugs aufweist, verhindert die Kondensation von Wasser. Zwischen den beiden äußeren Lagen zirkuliert Luft mit demselben Druck und derselben Temperatur wie die Außenatmosphäre.
Mutant 59 drang durch die zentimetergroße Lücke aus der innersten Plastiklage in die nächste ein. Die Zellen stießen Enzyme aus, unter denen sich die Moleküle zersetzten. Das hübsche Mädchen mit dem PVC-Mantel lag in tiefem Schlummer zurückgelehnt. Ein Passagier, der auf dem Mittelgang an ihr vorbeiging, berührte sie zufällig an der Schulter. Das Mädchen wachte auf und löste ihre Wange von der Rückenlehne.
Als sich ihr Kopf zur Seite bewegte, sah er aus wie ein aufgeweichtes Bonbon in Papier. Zwischen Wange, Mantelkragen und der Rückenlehne war ein weiches, schmieriges, rotes Gebilde, das sich durch die Kopfbewegung zu langen, schleimigen Streifen auseinanderzog. Entsetzt drehte sie sich um – und da sah sie, daß die Schulter ihres Mantels sich in eine glanzlose, verschrumpelte, stinkende Masse verwandelt hatte. Einen Herzschlag lang blieb sie völlig reglos, mit erstarrtem Gesicht sitzen. Dann schrie sie gellend auf. Eine Stewardeß eilte zu ihr.
In der Ersten Klasse schnarchte der rotgesichtige Mann. Er hatte eine Kognakfahne und bemerkte nicht, was um ihn herum vor sich ging. So bemerkte er auch nicht, daß seine Brille auf der Nase begonnen hatte, ihre Form zu verändern.
Zuerst weichte der braune Plastiksteg in der Mitte auf und das Gewicht der Gläser zog den Bügel nach unten; dann
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