Die Poison Diaries
sucht.
»Hü-ho!«, grunzt er stattdessen und tritt seinem Pferd mit den Fersen fest in die Seiten, so dass es mit einem Satz losspringt.
Vater und ich stehen wortlos da, während die Hufschläge in der Ferne verklingen. Eine vorüberziehende Wolke bedeckt die Sonne und wirft unvermittelt einen kühlen Mantel über den Hof.
»Wirklich schade, dass dein früherer Herr in solcher Eile war«, sagte Vater zu der noch immer eingewickelten Gestalt am Boden. »Er war wohl sehr begierig, dich loszuwerden. Dabei hätte ein kurzes freundliches Gespräch vermutlich dazu geführt, dass du ihm gesagt hättest, was genau du in den Dorfbrunnen geschüttet hast.«
Etwas bewegt sich in der Decke, windet und schlängelt sich. Die mumiengleiche Hülle löst sich. Erst erscheint das dunkle, zottelige Haar. Dann zwei smaragdgrüne Augen.
Mein Atem verfängt sich in meiner Brust. Noch nie in meinem Leben habe ich so schöne Augen gesehen – wie Zwillingsjuwelen. Kein Ungeheuer verfügt über eine derartige Schönheit. Meine ganze Furcht vor dem Neuankömmling löst sich in Wohlgefallen auf.
Diese zwei hypnotischen grünen Augen starren Vater an. Sie sind so ausdruckslos wie Glas.
»War es vielleicht Eisenhut? Oder Engelstrompete? Wie auch immer, irgendjemand wird schon darauf kommen. Allerdings könnten in der Zwischenzeit einige Dörfler in ihrem Wahn in den Tod springen. Du heißt also Weed, was?« Vater öffnet die Tür zum Haus und lädt Weed mit einer Handbewegung ein. »Der perfekte Name für einen ungewollten Spross wie dich. Jetzt wickele dich endlich aus diesem Laken und komm herein. Ich möchte zu gerne herausfinden, was für ein Geschenk du wirklich bist.«
Kapitel 5
25 . März
Der Wind hat sich gedreht. Er weht warm und ist voller Versprechen. Keine Zeit, noch mehr zu schreiben. Muss mich um Weed kümmern.
H eute ist der erste Tag einer neuen Zeit.
Es ist die Zeit von Weed.
Noch kann man nicht viel mit ihm anfangen. Bei Tag und Nacht verkriecht er sich in der Kohlenschütte. Vater sagt, das läge daran, wie man ihn im Irrenhaus behandelt hat, aber ich glaube, Vater hat ihm mit seinem Gerede über Gift im Brunnen Angst eingejagt. Kein Wunder, dass er nicht mit uns sprechen will. Bisher hat er das meiste von dem verweigert, was ich ihm zu essen gebracht habe, obwohl er alles Wasser trinkt, was ich ihm anbiete.
Ich werde geduldig sein. Jedes wilde Geschöpf kann gezähmt werden, wenn man abwartet und leise ist. Das habe ich von den streunenden Katzen gelernt, die um unseren Hof herumschleichen. Sie sehen aus wie gelbäugige Dämonen; sie springen davon und verstecken sich, wenn man sich nähert, aber früher oder später kommen sie doch und fressen einem aus der Hand, wenn sie Hunger haben.
Genauso wird es auch bei Weed sein. Aber noch ist es nicht so weit. Bis dahin werde ich mich mit ihm bekannt machen und ihm von mir erzählen, damit er sich an meine Anwesenheit gewöhnt. Anfangs wird er mir vielleicht nicht antworten, aber das spielt keine Rolle. Ich habe jemanden, mit dem ich reden kann. Endlich! Meine Worte werden wie die Sonne und die Luft sein. Meine Stimme wird auf ihn niederregnen, und dann werden wir sehen, was für eine herrliche Orchidee aus diesem scheuen, von allen verachteten Unkraut erblüht.
In Windeseile erledige ich meine häuslichen Pflichten, damit ich den Rest des Tages frei habe, um meinen neuen Freund zu bezähmen. Weil er die Kohlenschütte nicht verlassen will, trage ich meinen Schemel in den Keller und setze mich so nah zu ihm, wie ich es wage.
»Ich heiße Jessamine Luxton«, sage ich. Irgendeinen Anfang muss ich ja finden. »Ich bin sechzehn Jahre alt. Mein Vater ist Thomas Luxton, der Apotheker. Du hast ihn bereits kennengelernt. Er war derjenige, der dich vom Boden aufgehoben und ins Haus gebracht hat, nachdem dieser schreckliche Mann davongeritten war und dich im Schmutz liegengelassen hatte.«
Während ich spreche, hält er das Gesicht von mir abgewandt, die Knie eng an den zusammengekrümmten Körper gepresst, als ob er in einer harten Samenschale liegen würde.
»Nun«, sage ich und rücke meinen Schemel noch ein Stückchen näher. »Jetzt kennst du Vater und mich und damit meine ganze Familie, denn meine Mutter ist tot, und ich bin das einzige Kind. Mein Vater und ich leben allein hier.«
Ich sehe einen Finger zucken und sich krümmen.
»Dieser Ort hier, wo wir leben, diese Kapelle, die wir unser Haus nennen – all das ist schon sehr alt. Manche Leute würden wohl
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