Die Poison Diaries
Jessamine.« Er steht auf. »Für den Moment sollte unser einziges Augenmerk darauf liegen, dass Weed sich bei uns wohl fühlt. Er muss gut zu essen bekommen, man muss sich um ihn kümmern und ihm das Gefühl geben, sicher und geborgen zu sein. Er braucht Zeit – Zeit, um ein Teil dieser Familie zu werden. Denn schließlich«, fügt er, zu Weed gewandt, hinzu, »gibt es in einer Familie keine Geheimnisse, nicht wahr?«
Weed starrt seine Füße an. »Davon weiß ich nichts, Sir.«
***
Weed ist nun schon seit fast einer Woche bei uns.
Ich habe jeden Tag viele Stunden mit ihm verbracht, sowohl sprechend als auch schweigend – jede Stunde, die ich mir von meiner Arbeit in den Gärten und im Haus absparen kann. Er wendet sich nicht mehr ab, wenn er mich kommen sieht, und – hoffentlich bilde ich mir das nicht bloß ein – scheint sich über meine Anwesenheit sogar zu freuen. Er geht auf all meine Fragen ein, obwohl mir seine Antworten oft ein Rätsel sind.
Aber ich bin so an das Alleinsein gewöhnt, dass mir sogar sein wortloser, grünäugiger Blick beredt vorkommt. Ich erzähle ihm alles, was ich weiß, über das alte Kloster und das Hospital, über die verloren gegangenen Bücher der Mönche, über meine Arbeit in den Gärten und Vaters Arbeit als Apotheker. Die Wahrheit ist, dass ich Angst habe, mit dem Reden aufzuhören, denn dann würde er womöglich hören, wie mein Herz klopft und mein Atem schneller geht, wann immer ich seiner dunklen, fremdartigen Schönheit nahe komme. Und so rede und rede ich, während Weed mir zuhört und mich betrachtet, ohne zu blinzeln, wie eine Katze. Diese Gespräche scheinen uns beide zu erfreuen.
Aber er will nicht nach draußen gehen, und seit Vater ihn in seinem Arbeitszimmer befragt hat, hat er den Keller nicht mehr verlassen. Er trinkt Wasser, lehnt aber weiterhin das meiste Essen ab. Hier und da ein hart gekochtes Ei, etwas Hühnerbrühe oder etwas Schinken – das ist alles, wozu ich ihn überreden kann. Als ich ihn gestern nach dem Grund fragte, sagte er bloß: »Wegen der Schmerzen.«
»Schmerzen?«, fragte ich erschrocken. »Du hast Schmerzen? Wo? Im Bauch? Oder vielleicht in einem Zahn?« Aber er schüttelte den Kopf und wollte nicht mehr sagen.
Heute brachte ich ihm eine Schüssel Haferbrei zum Frühstück, die er verweigerte. Ich fragte ihn wieder, warum er nicht essen will. Zu meiner Überraschung antwortet er mir.
»Es ist lebendig. Es würde ihm Schmerzen bereiten. Es wäre falsch.«
»Lebendig? Meinst du den Haferbrei?«
Er nickt und betrachtet angeekelt die Schüssel. »Der Hafer.«
Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. »Als sie auf dem Feld wuchsen, waren die Haferkörner vermutlich lebendig. Aber sie wurden schon vor langer Zeit geerntet. Jetzt sind sie getrocknet und gekocht.«
Weed schüttelt den Kopf. »Das macht keinen Unterschied.«
Ein Rätsel. Aber ich werde es lösen.
»Was ist noch lebendig?«, frage ich. »Brot?«
»Ja.«
»Kohlrüben?«
»Ja.«
»Karotten?«
»Ja.«
»Himbeeren? Äpfel?«
Er nickt.
»Speck?«
Er überlegt einen Moment. »Nein.«
Ich springe auf. »Bleib hier. Ich bin gleich wieder da.«
Ich renne ins Vorratshaus und hole etwas Speck. Innerhalb weniger Minuten habe ich ihn in der Pfanne gebraten. Der Duft erfüllt das Haus und zieht auch in den Keller. Als ich mit dem Teller zu Weed komme, strahlen seine Augen erwartungsvoll. Er verspeist die dicken, fettigen Scheiben, während ich ihm dabei zuschaue und versuche, aus ihm schlau zu werden.
»Weed«, sage ich sanft, als er mit dem Essen fast fertig ist. »Warum empfindest du so starke Gefühle für Karotten und Äpfel, aber nicht für Speck?«
»Speck«, sagt er mit vollem Mund, »ist nicht mein Freund.«
***
Ich bin überglücklich, ihn essen zu sehen, aber Weed kann sich nicht ausschließlich von Speck und hart gekochten Eiern ernähren. Fleisch ist teuer, und wir haben nicht besonders viel Speck in unserer Vorratshaltung, und die Hühner können nur eine bestimmte Anzahl Eier pro Tag legen.
Aber während ich im Salon sitze und das Sonnenlicht betrachte, das sich in den unzähligen kleinen Scheiben der hohen, gebogenen Kirchenfenster aufspaltet, kommt mir ein Gedanke. Ich gehe in den Gemüsekeller und hole ein paar schöne, feste Kartoffeln. Oben in der Küche schäle und viertele ich die Knollen und werfe sie in einen Topf mit kochendem Wasser. Als sie gar sind, gieße ich sie ab und bestreue sie mit grobem Salz.
Ich lege die Kartoffeln in eine
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