Die Poison Diaries
dafür die Bibliothek der Mönche verschont, aber ich mag unser Heim, so wie es ist: ein langes, rechteckiges Haus aus grob behauenen Steinquadern. Vor langer Zeit schon hat Vater das Innere in mehrere Räume unterteilt. Mein Schlafzimmer ist klein und liegt am Ende einer langen Treppe im alten Glockenturm. Im Haupttrakt befindet sich Vaters Schlafgemach, ein Arbeitszimmer, in das er sich oft zurückzieht, und ein Salon, wo wir unsere Mahlzeiten einnehmen. Dort schreibe ich auch in mein Gartentagebuch, am Ende eines jeden Tages.
Der Salon ist der größte Raum im Haus, und hier erkennt man noch, welchem Zweck dieses Gebäude ursprünglich diente. Die Decke ist hoch und gewölbt, und die Wände sind von aufstrebenden Bogenfenstern durchbrochen, in denen sich laut Vater früher Buntglasscheiben befanden. Jetzt sind die Öffnungen mit dickem, einfachem Glas ausgefüllt, das in viele kleine Scheiben unterteilt ist. An sonnigen Tagen sticht das Licht durch diese Scheiben und malt schmale, glühende Pfade auf die dunklen Holzdielen des Bodens.
Früher, als ich noch klein war, habe ich
Himmel und Hölle
auf diesen Lichtpfaden gespielt.
Wenn ich über das Licht springe, ohne es zu berühren, wird Mama nicht sterben
, sagte ich mir.
Aber wenn mein Fuß das Licht berührt, liegt sie bald im Grab.
Mein Fuß berührte niemals das Licht, nicht ein einziges Mal. Das schwöre ich. Aber Mutter starb trotzdem.
Oh, wie ich weinte! Ich war erst vier Jahre alt, also ist meine Verzweiflung wohl verständlich. Aber ich weiß noch, wie ruhig die Stimme meines Vaters klang.
»Das ist der Lauf des Lebens«, erklärte er mir damals. »Alle Geschöpfe sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. Egal, was wir tun oder wie wir uns dabei fühlen, die Natur wird immer obsiegen.«
Vater ist so stark und klug. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre mehr wie er. Ich wünschte, ich könnte mein Schicksal, mein zurückgezogenes Leben mit ihm, einfach so akzeptieren. Ich wünschte, ich könnte ohne den Schatten eines Zweifels glauben, es sei meine Bestimmung, mein Lebenszweck, dass ich für ihn nähe, koche und den Garten versorge und ihm vielleicht, wenn ich alt genug bin –
vielleicht
, höre ich ihn sagen – bei seiner Arbeit helfen darf, wie ich es mit den Belladonna-Samen tue.
Aber manchmal, wenn ich den Duft des frischen Brotes rieche, das im Ofen gebacken wird, wenn mich die Erinnerung an ein liebevolles Lächeln überkommt oder wenn mich in einer besonders einsamen dunklen Winternacht niemand in den Schlaf singt, weine ich heimlich vor Sehnsucht nach meiner Mutter. Dann erfüllt mich ein Zorn, den ich nicht benennen kann.
Aber während die Jahre dahinziehen, kommen solche Momente immer seltener vor.
Kapitel 2
16 . März
Das Wetter ist immer noch feucht und kalt.
Ich habe morgens ein anständiges Feuer entfacht und bin trotzdem nicht warm geworden. Ich habe Kartoffeln und Pastinaken für eine Suppe geschält. Alle Stiefel geschrubbt und eingefettet. Das Einweichwasser für die Belladonna-Samen gewechselt.
Immer noch keine Nachricht von Vater.
V on meinem Zimmer aus kann ich weit blicken: über die bröckelnde Steinmauer, die den Hof und unser Haus umgibt, über den bunten Teppich aus Feldern, durch Hecken begrenzt, den schmalen Weg entlang, der sich durch die Hügel schlängelt, bis zu der Kreuzung, von wo aus man in alle Himmelsrichtungen abbiegen kann.
Im Süden gelangt man nach Alnwick, wo die Burg des Herzogs über Northumberland wacht. Im Norden liegen die Cheviot Hills und Schottland. Die Straße nach Westen bringt Reisende nach Newcastle, wenn sie nicht vorher von Straßenräubern getötet werden. Im Osten liegt das Meer.
Falls ich zufällig aus meinem Turmfenster schaue, wenn Vater heimkehrt, kann ich ihn schon aus zwei Meilen Entfernung sehen – eine einsame, leicht gebeugt gehende Gestalt, die von der Kreuzung aus den gewundenen Pfad einschlägt, der über die Schafweiden führt.
Selbst wenn er zu einem Kranken gerufen wird, geht Vater am liebsten zu Fuß. Er bleibt hin und wieder stehen und untersucht Kräuter und Gewächse, die am Wegesrand sprießen. Vielleicht findet er eine seltene Wildblume, die er für unser Gartenbeet ausgräbt, oder eine Kriechpflanze, deren Eigenschaften ihm unbekannt sind, oder einen merkwürdig aussehenden Pilz, der auf einem verrotteten Baumstumpf wächst.
Oft kehrt er mit einem Sack voller Wurzeln und Blätter von seinen Reisen zurück. Ich frage ihn dann, ob ich die Exemplare für seine
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