Die populaersten Irrtuemer ueber das lernen
ersten Blick – den Politikern Recht zu
geben: Neurobiologen betonen das enorme Lernpotenzial der Kinder bis zum sechsten Lebensjahr. Darüber hinaus zeigen Studien, dass sich eine frühe
Einschulung vorteilhaft auf die Intelligenzentwicklung auswirkt. Kleine Kinder sind hochmotiviert und sehr begabte Lerner, da sind sich die Forscher
einig. Ein ebenso klares Ja zur frühen Einschulung liefert die Wissenschaft gleichwohl nicht. Eine Erfolgsformel „früher + mehr = besser“ gebe es nicht,
betont die Schweizer Bildungsforscherin Margrit Stamm. Ein Blick in die internationalen Publikationen belege kein eindeutiges Pro zur
Früheinschulung. Neben Untersuchungen, die eine positive Wirkung bestätigten, gebe es auch solche, die eine frühere Einschulung mit der Gefahr krisenhaft
verlaufender Schulkarrieren verbinden. So kann man neuere Studien durchaus als Warnung verstehen, dass bei früher eingeschulten Kindern das Risiko
emotionaler, sozialer und verhaltensbezogener Probleme steigt.
Die Vorstellung, dass in der ersten Klasse noch sehr verspielte Knirpse sitzen, die sich womöglich weder die Schuhe zubindennoch den Po sauber abwischen können, schreckt nicht nur die Grundschullehrerinnen. Auch Wissenschaftler Patrick Puhani vom Institut für
Arbeitsökonomik an der Leibniz-Universität Hannover ist skeptisch. Der Volkswirt hat eine repräsentative Studie zum Effekt des Einschulungsalters auf die
Schülerleistung vorgelegt. Danach sind Kinder erfolgreicher, die erst mit ungefähr sieben Jahren eingeschult werden.
So schnitten ältere Schüler am Ende ihrer Grundschulzeit bei Tests besser ab und waren ihren jüngeren Klassenkameraden im
Leseverständnis „deutlich“ überlegen. Der Reifevorsprung hatte spürbare Konsequenzen: Die älteren Schüler schafften öfter den Sprung aufs Gymnasium. „Die
Großen sind einfach fitter“, bilanziert Puhani. Sie können sich besser konzentrieren und handeln organisierter. Außerdem sind sie eher in der Lage,
negative Erfahrungen wegzustecken. Puhani, der seine Resultate auf Informationen über mehr als 180 000 Schüler stützt, fragte zudem 30 Schulleiter, die
sein Fazit bestätigen. Jüngere Kinder seien, gemessen an ihren kognitiven Fähigkeiten (Erkennen, Erinnern, kreativ sein, Lernen), oft bereit für die
Schule, Defizite lägen häufig im „sozialen Bereich“, sagen die Praktiker. Das heißt, knapp Sechsjährige sind noch nicht so kontaktfähig und können mit
neuen Situationen weniger souverän umgehen als ihre älteren Kameraden.
Gegen die Tendenz, Kinder grundsätzlich früher einzuschulen, hat Experte Puhani gleichwohl nichts: „Wenn erstmal alle mit fünf in der
Schule sitzen, besteht wieder mehr Chancengleichheit.“ Allerdings müssten sich die Schulen auf die Bedürfnisse ihrer jüngeren Klientel einstellen – mit
mehr Tobe- und Spielzeiten etwa. Im bestehenden System mache die frühe Einschulung nur dann Sinn, wenn die Probleme jüngerer Kinder aufgefangen werden
könnten.
Stellen sich die Schulen auf Fünfjährige ein? Sie fangen erst damit an. Noch sind sogenannte „offene Eingangsstufen“
nicht flächendeckend eingeführt, werden aber immer beliebter. In diesem Modell können Schüler, je nach individuellem Entwicklungsstand, die ersten zwei
Klassen in einem variablen Zeitraum von einem Jahr bis zu drei Jahren durchlaufen. Vorbildlich sind Grundschulen mit Eingangsstufen, in denen neben
Lehrern auch Sozialpädagogen arbeiten, die schwächeren Kindern helfen.
Lehrer aus Nordrhein-Westfalen klagen hingegen über die Abschaffung der Schulkindergärten. Mittlerweile sitzen auch Kinder, die zwar
schulpflichtig sind, mitnichten aber schulfähig – also z. B. das Sprachniveau von Dreijährigen haben – in der ersten Klasse, während sie zuvor im
Schulkindergarten von speziell ausgebildeten Kräften auf den Schulstart vorbereitet wurden. Nach skandinavischem Vorbild will man jedoch auch in NRW das
individuelle Lernen vorantreiben. Eigneten sich einst Abc-Schützen im Klassenverband pro Woche durchschnittlich einen Buchstaben an, soll nun jedes Kind
sein Tempo selbst bestimmen. Aufgeweckte, selbstständige Kinder profitieren anscheinend von den neuen Methoden, schwächere aber drohen auf der Strecke zu
bleiben. Selbst da, wo sich engagierte Lehrer gerade um die weniger Begabten bemühen, gelingt es häufig nicht, die Schlusslichter mitzuziehen.
Grundschullehrer mahnen zur Besonnenheit: Sie
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