Die Portugiesische Reise (German Edition)
weil es der Patriotismus verlangt. Erteilt mir, Fische, eine klare Lektion, auf dass ich sie nicht beim zweiten Schritt, den ich auf dieser meiner Reise nach Portugal tue, vergesse, denn ihr müsst wissen: Von Ort zu Ort will ich darauf achten, was gleich ist und was verschieden, mit der Einschränkung, die nur allzu menschlich und auch euch Fischen nicht fremd ist, dass auch der Reisende Vorlieben und Sympathien hat und nicht der universellen Liebe verpflichtet ist, welche das auch nicht von ihm verlangt. Von euch schließlich, Fische, möchte ich mich verabschieden, bis irgendwann einmal, lebt euer Leben, solange die Fischer nicht vorbeikommen, schwimmt glücklich umher und wünscht mir eine gute Reise, auf Wiedersehen, adieu.«
Ein schönes Wunder für den Anfang. Ein plötzlicher Lufthauch kräuselt die Wasseroberfläche, oder ist es womöglich das Gewimmel der herbeigeeilten Fische, und kaum ist der Reisende verstummt, ist nichts zu sehen als der Fluss und seine steilen Ufer und nichts zu hören als das schläfrige Brummen des Motors. Das ist das Problem mit den Wundern: Sie dauern nicht lange an. Aber der Reisende ist nicht von Beruf aus Wundertäter, sie geschehen ihm versehentlich, deswegen ist er bereits wieder gefasst, als er zum Wagen zurückkehrt. Er weiß, dass er ein Land betritt, das reich an Übernatürlichem ist, und gleich die erste Stadt in Portugal, in die er kommt und deren Name Miranda do Douro lautet, liefert dafür ein prächtiges Beispiel. Er wird gezwungen, hinter seinen eigenen Vorstellungen zurückzustehen und lernbereit zu sein. Für Wunder und für alles andere.
Es ist ein Nachmittag im Oktober. Der Reisende öffnet das Fenster des Zimmers, in dem er die Nacht verbringen wird, und erkennt auf den ersten Blick, dass er großes Glück hat. Das Fenster hätte auf eine Mauer, ein brachliegendes Stück Boden, einen Hinterhof mit hängender Wäsche hinausgehen können, und dann hätte er sich mit der Zweckmäßigkeit, der Dekadenz, dem schnöden Trockenplatz zufriedengeben müssen. Was er aber sieht, ist das steinige spanische Ufer des Rio Douro, von solch hartnäckiger Beschaffenheit, dass selbst das Gestrüpp kaum Wurzeln fasst, und weil das Glück nie allein kommt, steht die Sonne in einem Winkel, dass sich die Felswand in ein riesiges abstraktes Gemälde in verschiedensten Gelbtönen verwandelt und er diesen Ort nicht mehr verlassen will, solange das Licht da ist. In diesem Augenblick weiß der Reisende noch nicht, dass er ein paar Tage später in Bragança sein wird, im Museum des Abtes von Baçal, und auf denselben Fels und vielleicht dieselben Gelbtöne blicken wird, diesmal auf einem Gemälde von Dórdio Gomes. Und sicher wird er den Kopf schütteln und murmeln: »Wie klein die Welt doch ist …«
In Miranda do Douro zum Beispiel kann sich bestimmt niemand verlaufen. Wir gehen die Rua da Costanilha hinunter, mit ihren Häusern aus dem 15. Jahrhundert, und ehe wir es uns versehen, kommen wir durch ein Tor in der Mauer aus der Stadt hinaus und blicken auf die weiten Täler, die sich gen Westen erstrecken, und eine tiefe mittelalterliche Stille umgibt uns. Was ist das für eine Zeit, was sind das für Menschen, fragt man sich. An der einen Seite des Tores steht eine Gruppe von Frauen, die mit leiser Stimme sprechen, alle in Schwarz gekleidet. Keine von ihnen kann man als jung bezeichnen, und kaum eine von ihnen erinnert sich wahrscheinlich daran, es je gewesen zu sein. Der Reisende trägt um die Schulter, wie es sich gehört, den Fotoapparat, aber es ist ihm unangenehm; die Unverfrorenheit vieler Reisender ist ihm noch fremd, und daher gibt es kein Erinnerungsfoto von diesen geheimnisvollen Frauen, die dort seit Anbeginn der Welt stehen und reden. Der Reisende wird melancholisch; wenn eine Reise so beginnt, kann das nichts Gutes verheißen. Er verfällt ins Grübeln, zum Glück nur für kurze Zeit: Ganz in der Nähe, außerhalb der Mauern, brüllt der Motor einer Planierraupe auf, dort wird eine neue Straße gebaut, der Fortschritt vor den Toren des Mittelalters. – Er geht die Rua da Costanilha wieder hinauf, läuft durch stille, menschenleere Straßen, niemand steht an den Fenstern, apropos Fenster, in dem schönen alten Stein aus dem 15. Jahrhundert entdeckt er Anzeichen von vergangenem Groll gegen die Spanier, in Form von kleinen obszönen Schnitzereien. Er muss schmunzeln angesichts dieser befreienden Skatologie, die sich weder vor Kinderaugen noch verärgerten Moralhütern
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