Die Portugiesische Reise (German Edition)
entschädigt den Reisenden zur Genüge. Das Haus von José Régio ist ebenfalls geschlossen, der Reisende hat sich den falschen Tag ausgesucht, aber dafür sind da diese kleinen Serpentinenstraßen im Fischerviertel. Hier gelangt er zur Wallfahrtskapelle des Senhor do Socorro mit ihrem imposanten Kalkgewölbe, ein Tempel für das Volk, weit entfernt von liturgischer Erhabenheit, und dort im Atrium, wenn man diesen Ort so nennen kann, flicken Fischer ihre Netze in der untergehenden Sonne. Man macht allgemeine Konversation, einer von ihnen heißt Delfin, ein guter Name für einen Seemann, und als der Reisende die Mauer erreicht und nach unten blickt, sieht er den Rio Ave, den »Vogelfluss«, und die Sorriso da Vida , das »Lächeln des Lebens«, besser hätte er es sich nicht ausmalen können, ein Fluss, der fliegen kann, und ein Boot mit solch einem Namen. Die Luft ist von wunderbarer Klarheit, es ist fast windstill, alles passt zusammen. Der Reisende verabschiedet sich von Delfin und seinen Kameraden, geht über kleine Treppen und Gassen in die Unterstadt und landet schließlich bei den Werften. Hier werden Holzboote gebaut, die Spantenbauer bringen die Geheimnisse der Seefahrt ans Tageslicht, der Reisende vermag sie dennoch nicht zu entschlüsseln. Er gibt sich damit zufrieden, die Form der Kiele, die bald das Wasser durchfurchen, sehen zu dürfen, die Wölbung der Querbalken, und den Geruch des gesägten oder gehobelten Holzes einzuatmen. Der Reisende macht sich keine Illusionen: Um das Alphabet dieser Kunst zu erlernen, von den ersten Buchstaben bis hin zu den letzten, müsste man ein neues Leben beginnen. Aber ihm sind nicht alle Buchstaben unbekannt, und einige kann er sogar lesen: zum Beispiel die, die in Weiß auf einer Eisenplatte stehen, wie eine Proklamation: ARBEIT UND DEN WILLEN ZUM ARBEITEN HABEN WIR. GEBT UNS BESSERE BEDINGUNGEN. Da wird dem Reisenden bewusst, was für eine lange Reise er hinter sich hat. Von Rio de Onor bis nach Vila do Conde, vom Gemurmel zum geschriebenen Wort, freimütig und offenherzig über Berge und Täler, durch Regen und Nebel, unter wolkenlosem Himmel, an den Terrassen des Douro, im Schatten der Pinien, die Sprache Portugals.
Vila do Conde hat viel zu erzählen. Zuerst einmal ist es der einzige Ort, egal ob Stadt oder Dorf, auf dessen Prangersäule ein mit einem Schwert bewaffneter Arm zu sehen ist, die Darstellung einer Justitia, der man die Augen nicht verbinden muss, denn sie hat keine. Nur ein Arm an einer vertikalen Stange, das treue Accessoire der Waage fehlt. Der Reisende fragt sich, wem der Arm gehört und was das Schwert schneiden soll. Eine rätselhafte Gerechtigkeit. Die Pfarrkirche hat ein vorzügliches manuelinisches Portal, das João de Castilho zugeschrieben wird. Der massive Glockenturm stammt aus dem 17. Jahrhundert. So, wie er dem Korpus der Kirche vorgesetzt ist, versteckt er sie, wie er sie auch gleichzeitig betont und erhöht, ist also beides, exzessiv und komplementär. Hätte der Reisende in solchen Dingen eine Meinung und hätte er die Kraft in den Armen, würde er ihn packen und zur Seite stellen, so wie der Campanile von Giotto neben der Kirche Santa Maria del Fiore in Florenz steht. Eine Idee, die der Reisende der Nachwelt überlässt, sollte sich genügend Geld für diese Art von Verbesserung finden. Im Innern gibt es einiges zu sehen, den São João aus dem 16. Jahrhundert, der als Schutzherr auch auf dem Tympanon des Portals abgebildet ist, die Senhora da Boa Viagem , ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert, die, ein Anachronismus, in der rechten Hand einen Logger oder irgendein ähnliches Boot hält. Diese gute Frau ist es, die die Fischer, Delfin und seine Kameraden, beschützt, die glücklicherweise alle noch leben.
Als Nächstes geht der Reisende in den Convento de Santa Clara. Ein Schüler der dort ansässigen Schule dient ihm als Fremdenführer, ein Junge namens João Antero, mit dem der Reisende wichtige Gespräche über Unterrichtsstoffe und Lehrer führt. Der Reisende erinnert sich an die Qualen, die er seinerzeit durchlitt, und die wunderbare, aus kostbaren Steinen bestehende gotische Kirche erfüllt ihn mit großem Verständnis und väterlicher Zuneigung. Es sind noch andere Besucher anwesend, aber die scheinen eher damit beschäftigt, das Echo auszuprobieren, als die Augen aufzumachen. Dem Schuljungen entgeht das nicht, und so wendet er sich ein wenig von ihnen ab und dem Reisenden zu. In der Ecke steht eine Santa Clara -Skulptur, ohne
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