Die Portugiesische Reise (German Edition)
Tastsinn, Finger, die über die Reliefe gleiten und uns vermitteln, was die Augen nicht erkennen. Die Worte sagen Kapitell, Akanthusblatt, Volute, sie sagen Konsole, Tympanon, Gewölbestein, und das ist sicher richtig, so richtig, wie zu behaupten, der Mensch hätte Kopf, Rumpf und Glieder, und damit nichts darüber auszusagen, was der Mensch eigentlich ist. Der Reisende fragt also den Wind, wo denn bitte der Kunstband ist, der den Menschen, die in der Ferne leben, diese Senhora da Orada und alle anderen Oradas zeigt, die überall auf der Welt den Jahrhunderten, der ignoranten Behandlung oder, noch schlimmer, der Zerstörungswut trotzen. Der Reisende geht noch weiter: Einige Monumente sollte man von dort, wo sie stehen und wo sie verfallen, Stein für Stein abtragen und in große Museen bringen, ein Gebäude im Gebäude, fernab vom natürlichen Sonnenlicht und vom Wind, von Kälte und Flechten, die an ihnen nagen, dafür aber geschützt. Man könnte ihm vorwerfen, dass man auf diese Weise die Formen einbalsamierte; er hielte dem entgegen, dass man sie so bewahrte. Sosehr man sich mit der Restaurierung von Gemälden beschäftigte, so wenig kümmerte man sich um die Vergänglichkeit des Steins.
Über Nossa Senhora da Orada möchte der Reisende nur noch Folgendes sagen: Er hat sie mit eigenen Augen gesehen. So, wie er auf der anderen Straßenseite ein einfaches Kruzifix erblickte mit einem großköpfigen Christus, ein kleines gekreuzigtes Männchen ohne eine Spur des Göttlichen, dem man am liebsten aus seiner misslichen Lage helfen würde.
Der Reisende macht sich langsam auf den Weg nach Castro Laboreiro hinauf. Melgaço liegt in etwa dreihundert Meter Höhe. Castro Laboreiro liegt bei tausendeinhundert. Um den Höhenunterschied zu überbrücken, legt man eine Strecke von circa dreißig Kilometern zurück: Der Anstieg ist nicht besonders steil. Aber unvergesslich ist er. Im Penedagebirge gibt es nicht viel Wald. Hier und da stehen ein paar Bäume, vor allem in der Nähe von menschlichen Behausungen, aber weitgehend besteht die Landschaft aus nichts als Felsen, Kermeseichenhainen und Gestrüpp. Weiter unten gibt es natürlich auch viel bewirtschaftetes Land, und an diesen letzten Herbsttagen hat die von den Menschen bearbeitete Landschaft eine Süße, die man eher weiblich nennen würde im Gegensatz zu den im Hintergrund sich auftürmenden Bergen, einer rauer und schroffer als der andere. Doch dieses Gebirge hat etwas, das der Reisende noch nie gesehen hat und das ihn über mehrere Kilometer hinweg irritiert. Die Sonne steht in einem Winkel, dass in den Bergen große leuchtende Tafeln aufblitzen und ihn blenden, und der Reisende grübelt, was das sein kann, vielleicht wertvolle Erzreserven, von ihm in diesem Augenblick entdeckt, oder vielleicht nur der Glanz der Schieferplatten oder, seiner ausschweifenden Phantasie entsprechend, irdische Gottheiten, die einander Zeichen geben, um sich vor zudringlichen Blicken zu schützen.
Die Antwort findet sich schließlich am Rande der Straße. Durch die Felsspalten sickert Wasser, und obwohl es nicht frei fließt, befeuchtet es den einen oder anderen Stein, der, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel daraufscheint, wie ein Spiegel aufleuchtet. So etwas hat der Reisende noch nie gesehen, und nachdem er das Rätsel gelöst hat, erfreut er sich auf dem Rest des Weges am Aufflammen des Lichtes, das verschwindet und wieder auftaucht, je nachdem, wie die Kurven der Straße verlaufen und sich der Einfallswinkel der Sonne ändert. Ein weites, offenes Land, wo die großen Berge Täler trennen, hier können sich die Hirten keine Nachrichten von einem Berg zum anderen zurufen.
Castro Laboreiro liegt plötzlich ohne Ankündigung hinter einer Kurve. Erst stehen ein paar neue Häuser da, dann die Stadt in der dunklen Tracht alter Steine. Schön anzusehen sind die Widerlager, die die Kirchenmauern stützen, romanische Überbleibsel des ehemaligen Bauwerks, und die Burg, so hoch droben, der nur eine Tür geblieben ist, die »Froschtür«: Der Reisende würde einiges darum geben, herauszubekommen, woher sie diesen Namen hat. Man muss nicht lange bleiben an diesem Ort, oder sehr lange, wenn man darauf aus ist, große Entdeckungen zu machen, zum Beispiel die hohen Felsen zu besteigen, eine Ansammlung von Riesen, die sich in der Ferne erheben. Am Himmel, der in reinstem Blau leuchtet, zieht ein Flugzeug einen weißen Streifen, schmal und schnurgerade: Nichts ist zu hören, nur die Augen sehen
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