Die Porzellanmalerin
um ihren Hals. Ja, sie würde gar keine andere Wahl haben, als ihren Sohn aufzugeben, wenn sie zu Giovanni ginge, dämmerte es ihr. Sie würde Ludwig zurücklassen müssen - die Bogenhausens würden niemals erlauben, dass sie ihnen den Stammhalter nahm. Allen voran die Schwiegermutter, die völlig vernarrt in den Jungen war und mittlerweile sogar mehr Zeit mit ihm verbrachte als Friederike und die Amme zusammen. Aber auch Carl liebte seinen Sohn abgöttisch, wenngleich er viel zu selten da war, um seine Vaterrolle wirklich auszufüllen.
Sie drehte sich wieder zum Fenster. Was für ein trostloser Anblick sich ihr da bot! Alles war grau und tot, jeder Tupfen Farbe war aus dem kleinen Gärtchen verschwunden. Noch immer spielten ihre Finger mit der Kette um ihren Hals; so eng waren die beiden Stränge nun ineinander verdreht, dass sie ihr fast die Luft abschnürten. Wenn sie doch nur wüsste, was sie tun sollte!
Aber - wusste sie denn nicht genau, was sie zu tun hatte? Gab es überhaupt irgendetwas zu entscheiden? Ihr Platz war an der Seite von Carl, ihrem Ehemann, den sie geheiratet hatte, damit ihr Kind einen Vater haben würde. Und weil sie ihn schätzte und mochte und sich von ihm gleichermaßen respektiert und … ja, auch geliebt fühlte. Obgleich er selten Gelegenheit hatte, ihr seine Zuneigung zeigen.
Oder die Gelegenheit nur selten suchte? Sie spürte wieder jene Bitterkeit in sich aufsteigen, ein wohlbekanntes Gefühl des Grolls, das sie in letzter Zeit immer öfter überkam. Carl ließ sie wirklich ständig allein, er war mehr unterwegs als daheim! Ob das tatsächlich nötig war, um die Geschäfte der Gebrüder Bogenhausen am Laufen zu halten? Manchmal kam es ihr fast so vor, als befände er sich auf der Flucht. Aber auf der Flucht wovor? Doch nicht etwa vor ihr? Oder kam er mit seiner Rolle als verheirateter Familienvater weniger gut zurecht, als sie annahm? Vielleicht, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, vielleicht ging er ja auch gar nicht freiwillig? Sondern Emanuel schickte ihn auf
Reisen, um ihn loszuwerden, ja um ungestört so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen zu können … Natürlich, warum war sie noch nicht eher darauf gekommen!
Friederikes Puls raste, als wäre sie gerade im Laufschritt die Treppe hinaufgeeilt. Emanuel wollte Carl aus dem Weg haben, um sich in aller Ruhe mit ihr treffen zu können! Sein zuvorkommendes Verhalten ihr gegenüber und vor allem die seltsamen, viel zu langen Blicke, mit denen er sie so auffällig oft bedachte, all das schien in der Tat darauf hinzuweisen, dass er mehr in ihr sah als nur die Frau seines Bruders. Auch Luises zunehmende Sprödigkeit, ihre spitzen Bemerkungen über die »eigenwillige Schwägerin« waren gewiss damit zu erklären, dass sie einfach nur eifersüchtig auf sie war. Aber warum kam Emanuel sie dann nicht mehr besuchen, wenn seine Gefühle ihn doch so zu ihr hinzogen? Schon seit Tagen war er nicht mehr in ihrem Arbeitszimmer aufgetaucht, ganz gegen seine Gewohnheit.
O Gott! Friederike schnappte nach Luft. Entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund. Das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte, war ja genau an dem Tag gewesen, als er ihr Giovannis Brief überreicht hatte! Emanuel hatte mitbekommen, dass der Brief aus ihrer alten Heimat, aus Dresden, kam und dass sie nach seiner Lektüre völlig aufgelöst gewesen war - schließlich hatte er die ganze Zeit vor der angelehnten Tür gestanden und sie belauscht. Er hatte alles mitbekommen, er hatte ihre Reaktion beobachtet, und er hatte mit angehört, wie sie Giovannis Namen wieder und wieder vor sich hin gesprochen, ja, am Schluss bald mehr oder weniger hinausgebrüllt hatte. Sie hatte doch sogar noch versucht, ihn aufzuhalten, um ihm alles zu erklären!
Friederike stand auf. Sie schob den Ledersessel zur Seite, um das Fenster weit aufzureißen. Kalte, feuchte Luft drang herein. Sie meinte die Glocken von der Leonhardskirche zu hören - hatten sie fünf oder sechs Mal geschlagen? Nicht einmal mehr richtig zählen konnte sie! Hatte der Brief sie tatsächlich so durcheinandergebracht, dass sie sogar verdrängt haben konnte,
dass Emanuel zum Mitwisser in Sachen Giovanni geworden war? Er hatte gehört, wie sie den Namen des Italieners immer wieder gerufen hatte, und er hatte das Dresdener Siegel gesehen. Wenn er nicht völlig weltfremd und unbedarft war, hatte er sicher längst eins und eins zusammengezählt: Seine Schwägerin hatte einen Brief von einem Mann bekommen, der ganz
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