Die Porzellanmalerin
flüchtigen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter verließ Constanze Simons den Grünen Salon und hastete nach unten, um die wartende Kutsche zu besteigen.
Friederike war ans Fenster getreten und hatte dem Zweispänner nachgeschaut, bis er in einer Kurve verschwunden war. Sie konnte es noch immer nicht glauben: Ihre Mutter schien sie mit aller Macht unter die Haube bringen zu wollen. Es war wirklich höchste Zeit, dass sie von hier wegkam.
D as Haus war still, nachdem die Mutter abgereist war. Georg war ausgegangen, der Vater arbeitete unten in seinem Kontor. Vorsichtig schlich Friederike in das Zimmer ihres Bruders, das gleich neben dem ihren lag. Sie überlegte, welche Ausrede sie gebrauchen könnte, falls er oder einer der Dienstboten unerwartet den Raum beträte. Langsam, um ein Quietschen der Scharniere zu vermeiden, öffnete sie die Tür des alten Holzschranks. Sie entnahm ihm eine Kniebundhose, die Georg schon lange nicht mehr getragen hatte, ein Hemd, eine Weste und den dicksten Rock, den sie finden konnte. Einen Dreispitz, in dem sie Georg noch nie gesehen hatte, weiße Kniestrümpfe und schwere Stiefel. Für eine Frau hatte sie ziemlich große Füße, worunter sie immer gelitten hatte, was aber jetzt eindeutig von Vorteil war. Nach längerem Wühlen in der Schrankschublade entdeckte sie endlich auch Georgs Perücken und entschied sich für eine, die nicht mehr ganz der Mode entsprach, weshalb er sie bestimmt nicht vermissen würde.
Hastig brachte sie die Sachen in ihr Zimmer und stopfte sie in eine Truhe, in der Hoffnung, dass Lilli nicht ausgerechnet an dem Tag auf die Idee kam, bei ihr aufzuräumen. Sie würde noch einmal zu Georg gehen müssen, um nach Geld zu suchen. Ihr Bruder bewahrte nämlich seine Ersparnisse bei sich im Zimmer auf und nicht im Familientresor, das wusste nicht nur sie, das wussten alle im Hause Simons, einschließlich der Dienstboten.
Als sie aus der Tür trat, konnte sie über das Geländer hinweg ihren Bruder die Treppe herauftänzeln sehen. Gerade noch rechtzeitig, bevor er sie entdeckte, machte sie kehrt und tat so, als wäre sie in Richtung Atelier unterwegs.
»Friederike, du bist so herzlos!«, rief Georg ihr zu. »Du hast noch immer nicht mit Charlotte gesprochen. Wann wirst du das endlich tun?«
Er hatte wohl beabsichtigt, seine Worte leicht dahinplätschern zu lassen, doch an seinem Gesichtsausdruck erkannte Friederike, dass ihm ganz und gar nicht zum Scherzen zumute war.
»Heute Nachmittag, versprochen!« Sie lächelte entschuldigend und eilte weiter zur Speichertreppe. »Ich muss den zweiten Chinesen fertig machen, Georg. Ich habe jetzt keine Zeit.«
»Bis später dann, wir sehen uns beim Mittagessen!«
Der letzte Halbsatz hatte wie ein Todesurteil geklungen. Scharfrichter Georg Armin Simons: Auf zum Schafott mit diesem Weibe!
Bedeutete das etwa, dass ihr Bruder bis zum Mittagessen in seinem Zimmer bleiben wollte?, überlegte sie panisch. Sie musste doch noch einmal dort hinein! Sie hatte kein Geld. Und ohne Geld konnte sie nicht aufbrechen. Sie wollte nicht bis nachmittags oder abends warten, denn sie wusste nicht, ob Georg dann nicht vielleicht auch zu Hause sein würde. Wie auf glühenden Kohlen saß sie in ihrem kalten Atelier und wartete darauf, dass die Zeit verstrich. Vor lauter Aufregung konnte sie nicht arbeiten und hoffte nur, dass ihr Bruder nicht ins Atelier kommen würde,
um sich nach den Chinesen zu erkundigen. Er hätte mit einem Blick erfasst, dass sie keinen Handschlag mehr gerührt hatte.
Ihre Malutensilien sollte sie besser nicht mit auf die Reise nehmen, überlegte sie weiter, die wären nur im Weg. Was sie brauchte, war ein Messer. Eine Waffe! Doch aus der Küche konnte sie keines entwenden. Zu viele Leute dort würden sich wundern, wenn das Fräulein sich auf einmal für Besteck interessierte. Und wenn sie einfach beim Mittagessen ein Messer mitnahm? Nein, das würden alle mitbekommen. Selbst wenn keiner sah, wie sie mit einem Messer im Haus herumlief, würde die Köchin sofort merken, dass das Silber nicht vollständig war. Dauernd zählte sie alles nach. Ihre Mutter achtete streng darauf, dass ja nichts von ihrer Aussteuer wegkam. Abgesehen davon war ein Küchenmesser wahrscheinlich wirklich nicht geeignet, irgendwelche Wegelagerer in Angst und Schrecken zu versetzen.
Da, ein Geräusch im Flur! Vorsichtig öffnete Friederike die Tür des Ateliers. Durch den schmalen Spalt sah sie einen Schatten die Treppe nach unten huschen. Das musste
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