Die Porzellanmalerin
Georg sein. Leise schlich sie die Stufen bis zu seinem Zimmer herab und lauschte. Die Dienstboten waren nirgends zu sehen. Sie drückte die Türklinke hinunter: Das Zimmer war leer. Es war also tatsächlich Georg gewesen, den sie auf der Treppe gehört hatte.
Vom Fenster ihres Bruders aus konnte man zum Marktplatz hinübersehen. Gewohnheitsmäßig warf sie einen flüchtigen Blick hinaus auf die Gassen. Nein, das gab’s doch nicht - Georg und Charlotte! Der Anblick ihres Bruders und ihrer besten Freundin, die mitten im Gewimmel kichernd miteinander turtelten, war nur schwer zu ertragen. Nie wieder würde sie mit Charlotte über Georg lästern können! Stattdessen würde sie sich endlose Schwärmereien über ihn anhören müssen.
Friederike atmete tief durch. Ein Glück, dass ihr all das jetzt erspart bleiben würde! Rasch trat sie vom Fenster zurück, um endlich nach dem Geld zu suchen. Sie hatte keine Ahnung, wo genau ihr Bruder seine Ersparnisse aufbewahrte, und begann
mit dem Bett: Unter der Matratze war nichts zu entdecken. In dem kleinen Nachtschrank fand sie auch kein Geld, dafür einen Stoß Briefe, die interessant aussahen. Sie erkannte Charlottes Handschrift. Auch die Schrift auf den anderen Umschlägen wirkte sehr weiblich. Ein zarter Fliederduft entströmte den Briefen. Wer wohl die Absenderin war? Noch eine, die auf ihren Bruder hereingefallen war? Doch dann riss sie sich zusammen, es war einfach keine Zeit, um hinter Georg herzuschnüffeln. Im Geheimfach des Schreibkabinetts, von dem natürlich jeder im Hause Simons wusste, fand sie schließlich fünfzig Taler, siebzehn Groschen und einige Pfennige. Georg hatte Glück, dass bisher noch niemand sein Geld an sich genommen hatte, so offen, wie er es herumliegen ließ!
In dem sogenannten Geheimfach lag außerdem ein kleines Stilett. Was ihr Bruder wohl damit vorgehabt hatte? Das Stilett war zwar wirklich sehr klein, wie für eine zierliche Frauenhand geschaffen, aber es war besser als nichts. Und ein anderes Messer würde sie sowieso nicht von zu Hause mitnehmen können.
Sie warf einen Blick auf die Porzellanuhr, die auf dem Kaminsims stand. Kurz nach zwölf: Zeit zum Mittagessen. Durch das Fenster sah sie, wie Georg sich von Charlotte verabschiedete. Verliebt lächelten die beiden sich an. Gleich würde Georg ins Haus zurückkommen. Sie eilte in ihr Zimmer und legte Geld und Stilett zu den Kleidern in die Truhe.
B eim Mittagessen bestätigten sich Konrad und Georg Simons gegenseitig darin, wie interessant die Begegnung mit dem Kaufmann Per Hansen aus Hamburg gewesen sei. Der Abend war doch jetzt schon ein paar Tage her, wunderte sich Friederike im Stillen. Warum sie wohl immer noch davon sprachen? Aber sie wollte das Thema nicht weiter vertiefen, deshalb behielt sie ihre Verwunderung für sich. Erst beim Nachtisch kam ihr plötzlich ein Verdacht in den Sinn: Ob Georg den Namen Hansen mit Absicht wieder ins Spiel gebracht hatte? Zuzutrauen wäre es ihm
durchaus. Oder hatte die Mutter den Bruder etwa in die Heiratspläne miteinbezogen? Benutzte sie ihn vielleicht, um einmal mehr Druck auf den aus ihrer Sicht allzu nachgiebigen Vater und damit natürlich auch auf sie, Friederike, auszuüben? Sie wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu denken, so abgefeimt kam ihr das Ganze vor.
Den Nachmittag verbrachte sie im Atelier, um dem zweiten kleinen Chinesen eine gemusterte Hose zu verpassen. Malen war noch immer die beste Art, die Zeit totzuschlagen! Sie musste warten, bis es dunkel war, wenn sie sich unbemerkt in die Druckerei schleichen wollte, wo sie die Vorlage für ihr Reisedokument herzubekommen hoffte.
Endlich war die Sonne hinter den Dächern verschwunden. Schnell zog sie ihre flachen Schuhe an und holte den Schlüssel zur rückwärtigen Tür der Druckerei aus dem Sekretär in der Bibliothek. Die Arbeiter hatten bereits Feierabend gemacht. Das Risiko, dass es ihrem Vater einfiel, sich aus seinem Kabinett zu entfernen und die Druckereiräume aufzusuchen, musste sie eingehen.
Vorsichtig blickte sie sich um, als sie das Haus durch den Küchenausgang verließ und die hintere Tür des Nachbargebäudes aufschloss. Sie hatte sie gerade hinter sich zugezogen und stand im Halbdunkel des Korridors, als vorne das Tor aufging: die Nachbarin mit ihren Kindern, die sofort im Treppenhaus herumzutoben begannen. Friederike presste sich dicht gegen die Wand und versuchte nicht zu atmen. Sie musste ganze zehn Minuten ausharren, bis die Familie lärmend in ihrer Wohnung
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