Die Porzellanmalerin
immerzu den Kopf und rief:
»Gehen Sie wieder nach Hause, meine Herrschaften, gehen Sie! Heute fährt gar nichts mehr, und für morgen sieht es auch nicht viel besser aus.«
Das Gleiche sagte er auf Französisch und in einer Sprache, die Friederike noch nie gehört hatte.
Eine Frau mit einer Frisur nach der allerletzten Mode und einem prächtigen Pelzcape machte ihrer Empörung Luft:
»Was heißt ›nach Hause gehen‹? Wir sind aus Würzburg gekommen und wollen nach Frankfurt. Wie sollen wir nach Hause gehen?« Beifall heischend blickte sie sich in der Menge um.
»Sie können zur Anlegestelle am Main gehen und fragen, ob morgen das Marktschiff nach Frankfurt fährt.«
Dem Postmeister war anzusehen, dass er mit den Nerven am Ende war, aber trotz seines hochroten Kopfes bemühte er sich, die Form zu wahren.
»Hätten wir nur von Anfang an das Schiff genommen! Ich hab’s doch gesagt, Edouard!«
Die vornehme Dame fiel jetzt über ihren Ehemann her.
»Das mit dem Marktschiff können Sie auch vergessen. Der Fluss ist schon halb zugefroren«, bemerkte ein Mann, der seine Gepäckstücke aus dem Matsch zu räumen versuchte. »Ich komme gerade vom Ufer: Die haben auch keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«
Ein Teil der Herumstehenden verließ unter Murren den Posthof. Eine Händlerin mit einem großen Korb am Arm wollte so schnell nicht aufgeben.
» Wij moeten naar Frankfurt«, rief sie aufgeregt.
Ein Mann, dessen Beine in der eng anliegenden Kniehose Friederike unwillkürlich an einen Storch denken ließen, trat mit vorgewölbter Brust auf den Postmeister zu.
»Merde alors!« , brüllte er. »Qu’est-ce que ça veut dire: Rien ne va plus? Il nous faut aller à Francfort. Allez-y, essayez votre meilleur!«
Hier ist nichts zu machen, dachte sie enttäuscht und lief zurück zu ihrer Chaise, die glücklicherweise noch immer wartete. Auf dem Weg in die Altstadt bemerkte sie an mehreren Stellen, wie die Natur das von Menschenhand Geschaffene wieder zunichte gemacht hatte. Ein Dach war unter den Schneemassen zusammengebrochen, bei einem anderen Haus kletterte fluchend ein Mann aus dem Fenster im Obergeschoss, weil er seine Eingangstür nicht mehr öffnen konnte. Ein Fuhrknecht tat ihr besonders leid, dessen Pferd auf dem glatten Boden ausgerutscht war, sodass die schweren Weinfässer von dem umgekippten Karren hinuntergerollt waren. Der Fuhrmann stand bis zu den Knien in einem seitlich der Straße aufgetürmten Schneehaufen und heulte fast vor ohnmächtiger Wut.
»Was ist das für eine Sprache, die sie hier alle sprechen?«, fragte sie den Träger, als sie ihm ihre letzten Münzen in die Hand drückte. Es war ihr nicht gelungen, den Sprachmischmasch zu entwirren.
»Niederländisch, Monsieur«, lautete die Antwort. »In Neu-Hanau wird Niederländisch und Französisch gesprochen. Sie sind hier unter Refugianten, wussten Sie das nicht? Unsere Vorfahren sind Glaubensflüchtlinge aus den spanischen Niederlanden.«
Auf dem Weg vom Rathaus zum Gasthof sah Friederike in der beinah menschenleeren Altstadt plötzlich eine elegante Gestalt aus dem Nichts auftauchen, deren Silhouette sich dunkel von dem alles überdeckenden Weiß abhob.
Giovanni!, durchzuckte es sie. Ihr Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus. Ohne nachzudenken, lief sie humpelnd hinter dem Mann her, der in eine enge Gasse eingebogen war. Ein warmes Gefühl durchflutete sie: Er hatte sein Versprechen wahr gemacht! Er hatte sie gesucht, war ihr bis nach Hanau hinterhergefahren, weil er sie unbedingt wiedersehen wollte. Giovanni - nun wurde alles gut! Er würde ihr Geld geben, damit sie hier nicht ewig festsitzen musste, er würde eine Lösung finden, wie sie am schnellsten nach Höchst kam. Oder - sie wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu denken - er würde ihr gleich einen ganz anderen Vorschlag machen: ob sie mit ihm weiterreisen, ob sie anstelle der Contessa ihn begleiten, ja, vielleicht sogar, ob sie seine Frau werden wolle, weil er sie aus tiefstem Herzen liebe und begehre und sie einfach nicht vergessen könne … Ihr Knie schmerzte, ihre Lungen brannten, während sie versuchte, in dem tiefen Schneematsch voranzukommen.
»Giovanni!«
Obwohl ihr Schreien in den dicht vom Himmel fallenden Flocken beinah unterging, drehten sich die wenigen Menschen auf der Straße neugierig nach ihr um. Nur Giovanni lief ungerührt weiter. Ein Leiterwagen wurde vor ihr aus einem Hoftor geschoben und blockierte die Gasse. Hastig quetschte sie sich an der Hauswand
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