Die Priesterin von Avalon
mir größer, und ihre Stimme hatte den überirdischen, rituellen Klang.
»Du hast den Tempel der Großen Göttin betreten. Bedenke, dass SIE ebenso viele Gesichter hat, wie es Frauen gibt, und doch ist SIE einzigartig und überlegen. SIE ist ewig und unveränderlich, und doch zeigt SIE sich uns je nach Lebensphase in einem anderen Kleid. SIE ist Jungfrau, ewig unberührt und rein. SIE ist Mutter, Quelle allen Lebens. Und SIE ist uraltes Wissen, das den Tod überdauert. Eilan, Tochter von Rian, bist du bereit, SIE in all IHREN Gestalten anzunehmen?«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich trocken waren, doch ich war erleichtert, als meine Antwort ruhig und klar herauskam.
»Ja…«
Die Priesterin hob die Arme zur Anrufung.
»Herrin, wir sind hierher gekommen, um Rians Tochter Eilan in unseren Kreis aufzunehmen und sie in die Mysterien der Frau einzuweihen. Heilige, erhöre uns! Mögen unsere Worte DEINEN Willen zum Ausdruck bringen, so wie unser Körper die Form Deiner Göttlichkeit zeigt, denn wir essen und trinken und atmen und lieben in DIR…«
»So sei es…«, erklang zustimmendes Raunen aus dem Kreis, und allmählich wich die Anspannung von mir.
Heron legte mir wieder den Umhang um die Schultern und schob mich vor sich her. Auf der anderen Seite des Brunnens waren drei Stühle aufgestellt worden. Die anderen Priesterinnen hatten ihren Schleier fallen lassen, doch die drei, die dort wie auf einem Thron saßen, waren noch immer in faltenreiches, hauchdünnes Leinen gehüllt: weiß und schwarz außen, rot in der Mitte. Aelia saß dem Kreis gegenüber, und als sie meinen Blick auffing, lächelte sie.
»Tochter der Göttin, du hast die Kindheit hinter dir gelassen«, sagte Heron. Man merkte ihr an, dass sie die Worte mit der Vorsicht des neu Erlernten vortrug. »Erfahre nun, wie deine Lebensphasen aussehen werden.«
Ich kniete vor der Priesterin nieder, die den weißen Schleier trug. Stille trat ein. Dann zitterte der reine Stoff, als seine Trägerin lachte. Die Stimme klang lieblich und silberhell wie Schellengeläut, und ich bebte, als mir bewusst wurde, dass mehr als eine menschliche Priesterin vor mir saß.
» Ich bin die Blüte am Zweig des Baumes «, sagte die Jungfrau.
Die Stimme war leicht, voller Verheißung und mir so vertraut wie meine eigene, obwohl ich mir sicher war, dass ich sie noch nie gehört hatte. Sie zu vernehmen war, als lauschte ich dem Gesang meiner Seele, und ich wusste, dass dies die Göttin selbst war.
» Ich bin die Mondsichel, die den Himmel krönt.
Ich bin der Sonnenstrahl, der auf der Welle glitzert,
der Windhauch, der über das frische Gras weht.
Kein Mann hat mich je besessen
und doch bin ich Ziel allen Verlangens.
Bin Jägerin und Heilige Weisheit,
Geist der Inspiration und die Herrin der Blumen.
Schaue ins Wasser und erkenne in dir,
du siehst dort mein Spiegelbild, denn du gehörst zu Mir… «
Ich schloss die Augen, überwältigt vom Bild des Sees, der von silbernem Regendunst halb verschleiert war. Dann teilten sich die Wolken. Am Ufer stand ein junger Mann, dessen Haare wie Sonnenstrahlen leuchteten. Daneben sah ich mich mit langen Haaren, und mir wurde klar, dass dies ein paar Jahre in der Zukunft lag. Ich ging auf ihn zu, doch als ich meine Hand nach ihm ausstreckte, wandelte sich das Bild. Jetzt sah ich den Schein eines Feldfeuers über einem Beltane-Baum, der mit Blumen geschmückt war. Männer und Frauen tanzten ekstatisch um ihn herum. Unter ihnen sah ich den jungen Mann wieder, die Augen verzückt glitzernd, als eine verschleierte Gestalt, von der ich wusste, dass ich es war, von blütenbekränzten Priesterinnen zu ihm geführt wurde. Dann schloss er mich stürmisch in die Arme.
Jetzt waren wir im heiligen Gemach. Er zog mir den Jungfrauenschleier vom Gesicht, und ich strahlte vor Freude. Durch frische Blätter hindurch sah ich den Halbmond, dann löste sich die Szene in einem Sternenschauer auf. Ich war wieder bei mir und schaute zu dem Mysterium auf, das hinter dem weißen Schleier verborgen war.
»Ich höre dich«, flüsterte ich mit unsicherer Stimme. »Ich werde dir dienen.«
»Willst du jetzt schwören, deine Jungfernschaft nur dem Manne hinzugeben, den ich für dich aussuche, in den heiligen Riten von Avalon?«
Verwirrt fragte ich mich, ob dies eine Prüfung war, denn gewiss hatte die Herrin mir doch gerade den Mann gezeigt, den ich einmal lieben sollte. Aber die Stimme hatte ihren überirdischen Liebreiz verloren,
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