Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
einem Weg mit tief ausgefahrenen Karrenspuren; Tietgaud hatte beschlossen, daß sie sich nicht mehr verstecken würden. Als Gäste würden sie nach Rethra reisen und keinen Grund zu Verdächtigungen geben. Daß es mit Embrichos Plan zu tun hatte, war sicher, aber sosehr sich Alena auch bemühte: Sobald sie den Hünen darauf ansprach, wies er sie kühl ab. Die Franken steckten am Abend die Köpfe zusammen, raunten sich Dinge zu, die sie nicht erfahren durfte. Und sie strahlten eine verbissene Fröhlichkeit aus, die Alena stutzig machte.
Nach drei Tagen erreichte die Gruppe Malchow und das Land der Müritzer, ließ den Fleesensee und den Kölpinsee im Norden sowie die Müritz im Süden liegen, watete durch Flüsse und Bäche, störte Gänse auf, überholte einen Händler mit Tonwaren auf dem Wagen, die bei jeder Unebenheit des Weges scheppernd gegeneinanderschlugen. Nach weiteren drei Tagen kam sie in die Nähe des Tollensesees.
Es war eine milde Art des Wahnsinns, in die Alena während dieser Zeit verfiel. Sie vergaß ihre Vorbehalte gegen den Geliebten, der nicht bereit war, sie in die Pläne der Franken einzuweihen, vergaß die Sorge, benutzt und betrogen zu werden. Statt dessen war sie plötzlich guter Dinge, genoß die Gespräche mit dem Hünen, seine Gesten, Berührungen. Bald zweifelte sie nicht mehr daran, daß es ihr gelingen würde, ihrem Vater Embricho als den erwählten Mann vorzustellen und diese Wahl durchzusetzen,gleich, welche Einwände der Hochpriester vorbrachte. Das Spiel, das Männer und Frauen spielen, wenn sie sich begehren, nahm ihren Verstand gefangen, und die nagende Erinnerung daran, daß sie einen Todgeweihten liebte, verstummte. Die Heimkehr nach Rethra fürchten? Im Gegenteil, sie freute sich, daß sie den Franken ihre Heimat zeigen können würde. Alenas Lachen erscholl laut im Wald. Nur des Nachts krochen böse Träume heran vom grausamen, tödlichen Ritual vor tausenden, starrenden Augenpaaren. Träume von einer gefallenen Nawyša Devka.
Ohne daß sie es wahrhaben wollte, rollte die Lawine des Untergangs unaufhaltsam weiter, um ihr Leben zu zermalmen.
An einem schmalen Gewässer südlich der Lieps wurde das Nachtlager vorbereitet. Embricho hatte auf Schildkröten gehofft, aber im klaren Wasser fand sich nicht eine einzige. So verteilten sie sich in den letzten Abendstunden zur Suche nach Eßbarem: Embricho und Tietgaud wollten versuchen, mit angespitzten Stöcken am Ufer Fische zu stechen, Uvelan und Audulf schlugen sich in den Wald, um nach Wurzeln, Pilzen, Kräutern und Beeren zu suchen, und Brun war wie in den Nächten zuvor die Aufgabe zugefallen, ein Feuer herzurichten und zu entfachen. Alena hatte sich eine Schlinge aus Weidenzweigen gebogen und pirschte entlang des Ufers, nach unvorsichtigen Wasservögeln Ausschau haltend.
Weit hörbar schmetterte ein Kranich sein
Gurruh
, daß es zwischen den Bäumen am Rande des Gewässers hin und her hallte. Zur Antwort hackten Bleßrallen kurze Töne in die Luft. Alena schlich im Abendschatten der Bäume entlang, aufmerksam zwischen das Schilf spähend. Die langen Halme neigten sich ineinander und raschelten. Ein zarter Wind kräuselte das Wasser auf dem See; wie Ziegenmilch und Ampfer roch es, ein säuerlicher Duft. Es war warm, Alena verspürte nicht wenig Lust, sich des Kleides zu entledigen und auf den See hinauszuschwimmen.
Ein schabendes, reißendes Geräusch ließ sie aufhorchen. Es war aus dem Wald gekommen, nicht weit von ihr. Wieder das Raspeln, das Schleifen. Dann deutlich: Ein tönerner Deckel, der auf einem Gefäß seinen Platz suchte und fand.
Wenn hier Menschen lebten, mußten es Tollensanen sein. Oft kamen Besucher dieses Stammes nach Rethra, die Tollensanen waren nahezu mit den Redariern verbrüdert. Hatte Vater nicht noch in Alenas Kindertagen davon erzählt, wie die Völker Seite an Seite kämpften, zusammen mit den Zirzipanen und den Kessinern unter König Cealadrag? Die Bewohner eines Tollensanendorfs würden die Bitte um ein wenig Brot sicher nicht ablehnen.
Alena folgte der Richtung, aus der die Geräusche kamen. Bald fand sie einen Jungen unter einer Birke, das Messer an den Stamm angesetzt. Er machte einen Schnitt und zog die Rinde seitwärts als langen Streifen ab. Sie löste sich fauchend. »Wunderbar«, lobte er sich. »Ein großes Stück!« Wieder setzte er das Messer an.
Sechs oder sieben Jahre alt mochte er sein. Die Schultern schmal, die Hose zu kurz für seine knochigen Beine. Ein zerschlissenes
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