Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
den Duft der Blätter und der fruchtbaren Erde. Einmal betastete er noch die Priesterbinde auf seiner Stirn. Sie saß gut. Dann trat er auf die Eibe zu.
»Mächtiger Geist, trage meine Worte zu Svarogh. Nicht ohne Grund hat er mich aus dem Fluch aufgeweckt, der mich in die Dunkelheit gebunden hatte.« Der Totenstein schimmerte rot in der Abendsonne. Er reichte Uvelan bis zum Bauch. In Einkerbungen und Höhlungen hatte sich Regenwasser gesammelt. »Die Zeit der Rache an meinem Widersacher ist da. Auch du, Geist des Totenbaums, unterstütze mich, vernichte den Frevler, der die Dreistigkeit hatte, Svaroghs Namen zu verbieten.«
Die Nadeln der Eibe glänzten von oben betrachtet dunkelgrün, von unten erschienen sie gelblich. In zwei Reihen wuchsen sie an den Zweigen. Dazwischen hingen rote Beeren, eine tiefe Öffnung in ihrer Mitte, als wären sie hohl. Same und Nadeln trugen Gift.
»Du, Svarogh, hast das Gute nicht vergessen, das ich für dich tat. Daß ich deinen Namen verteidigt habe. Daß ich all diese Paare unter den Eichen vermählte oder ihnen durch die Kraft der heiligen Bäume zu Fruchtbarkeit verhalf. Daß ich Flüchtlinge im heiligen Hain vor ihren Verfolgern schützte. Du läßt mich nicht sterben wie meinen Bruder.«
Es war ein seltsamer Geruch unter diesem Baum, ein leichtes Stechen in der Nase und im Hals, wenn er die Luft einsog, und zugleich ein süßlich-herber Duft wie von Schafen auf einer blühenden Wiese. Diese Luft war es, die tötete. Aber der Gott der Sonne würde ihn bewahren. Uvelan schob das Verlangen beseite, daß ihn zwingen wollte, den Atem anzuhalten, unter dem Baum hervorzustürzen und sich das Gift von der Haut zu waschen.
Er öffnete erneut den Beutel und zog einige Blüten heraus, die er im Wald gesammelt hatte. Gebete flüsternd, legte er sie auf den Totenstein. Dann schöpfte er Wasser, reckte es zum Baum empor: »Laß dieses heilige Wasser mich stärken, mache mich mächtig, daß ich den Hochpriester Rethras fortwehe wie ein Sturm!« Er trank.
Vor dem Stein kniete er nieder, reckte die Hände zum Felsblock empor und preßte sie in die handförmigen Vertiefungen. Die Finger fügten sich leicht hinein. Wieder murmelte er Gebete.
Wie der Bruder dagelegen hatte! Die Arme im Schnee hilflos ausgebreitet, die Brust aufgerissen. Das Ur mußte ihn mit einem Horn durchbohrt haben. Es mußte eins der Großen gewesen sein, die Schultern so hoch wie ein ausgewachsener Mann, die Hörner länger als Arme und nach oben und vorn gebogen. Uvelan hatte damals das Gefühl gehabt, es sei noch da, stünde neben ihm und betrachte den Getöteten im rot verfärbten Schnee. Hatte es seine Herde verteidigt? Oder wollte der Bruder es jagen? Allein? Ein Ur im Alleingang töten? Dämonentiere waren es, schwarze Bullen mit einem weißen Aalstrich auf dem Rücken vom Kopf bis zum Schwanz. Sie hatten die Kraft, ein Haus umzustoßen, ohne Zweifel.
Das Ur war für ihn immer der Beweis dafür gewesen, wieviel Stärke in den Gräsern und Flechten steckte, so unscheinbar sie auch schienen. Was fraßen diese mächtigen Tiere? Nichts anderes als Kräuter und die frischen Triebe der Bäume. Daraus bezogen sie ihre Kraft. Und mit dieserKraft beschützten sie die Herde von braunen Kühen und rotbraunen Kälbern.
Es war keine Herde in der Nähe gewesen. Da hätten Spuren sein müssen im Schnee. Das ganze Gebiet war Uvelan abgelaufen, aber es lag nur der Bruder dort, und eine einsame Folge von Hufeindrücken führte zu ihm hin und zurück zum Waldrand.
Hatte er es bedroht? Warum war er nicht weggelaufen?
Der Bruder mit der tiefen, weit tragenden Stimme. Der, dem die Menschen gehorchten. Der bessere Führer. Sie bewunderten ihn wegen seiner Jagderfolge und wegen der Kämpfe, die er gegen die Obodriten geführt hatte. Vater hatte ihn zu seinem Nachfolger gemacht.
Die Gebete des Bruders waren immer kurz und hart gewesen. Er mochte es nicht, den Nacken zu beugen. Statt dessen sah er herausfordernd hinauf in die Eichenbäume und schleuderte seine Bitten in das Gesicht des Lichtbringers.
Und Svarogh hatte geantwortet.
Dann die Gerüchte im Volk, Uvelan würde ein schwacher Nachfolger werden. Sein entschiedener Wille, Freunde und Feinde erzittern zu lassen, ihnen zu zeigen, daß er würdig war. Uvelan war härter vorgegangen, als der Vater und der Bruder es je getan hatten. Und Svarogh hatte wieder geantwortet. Mit einem Fluch.
Was, wenn es andere Götter waren, die das Priestergeschlecht des Lichtbringers verfolgten,
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