Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
ihm in den dunklen Raum. Fenster gab es nicht, nur durch die Türöffnung fiel Licht auf die Regale. Es roch nach warmer Asche und frischem Brot – eine herrliche Luft, die sie tröstete, ihr das Gefühl vermittelte, zu Hause zu sein. Tief atmete sie ein. Brote lagen in langen Kettenauf den Regalen an der Wand, wie die Häuser am Burgwall von Rethra aufgereiht. In der Mitte der Ofen, unförmig, klobig.
Ob es vermessen war, für jeden ein Brot mitzunehmen? Embricho, Brun, Audulf, Tietgaud, Uvelan und sie, das machte sechs der nach Mehl duftenden Fladen. Unter den stauenden Augen des Jungen nahm Alena ein Brot nach dem anderen aus dem Regal.
»Darfst du so viele nehmen?«
»Ich werde deinem Vater erklären, daß ich nicht allein hier bin. Sie sind nicht nur für mich.«
Auf dem Weg zurück zum Werkschuppen bereute Alena ihre Entscheidung bitter. Das Sonnenlicht schien allein auf sie und die Brote herunterzuleuchten. Wie maßlos! sagten die Blicke der Dorfbewohner. Wie sie sie an sich rafft! Frauen schüttelten den Kopf, Männer zogen die Stirn kraus.
Es gab keine Möglichkeit, die vielen Fladen zu verbergen. »Ist nicht für mich«, wollte Alena rufen. Kaum wagte sie es, die Leute anzusehen, so sehr schämte sie sich.
»Wem bringst du denn die Brote?« fragte Kitan.
»Ich reise mit fünf Männern nach Rethra. Sie rasten am See.«
»Soll ich dir tragen helfen?«
Erleichtert gab Alena zwei Brote an den Jungen ab. So sah es schon besser aus.
Sie erreichten den Werkschuppen. »Besten Dank«, sagte sie, hoffte, daß Kitans Vater seine Gewohnheit beibehielt, nicht von der Arbeit aufzublicken. Er hob die Planke aus dem Bereich des Feuers, lehnte sie ein Stück weiter ans Schuppendach. Dann stemmte er die Hände in die Hüfte und sah Alena an. Ihr verlegenes Lächeln fand keine Erwiderung auf seinem Gesicht. Weder schimpfte er, noch schüttelte er den Kopf wie die anderen. Er sah für einige Augenblicke auf die Brote, dann trafen die abweisenden Augen Alenas Gesicht. Schließlich wendete er sich schweigendab, ging unter das Dach des Schuppens, beugte sich über das Werkzeug.
Alena biß sich auf die Unterlippe. Sie kämpfte mit den Tränen. »Ich kann sie auch wieder zurückbringen«, sagte sie leise.
»Nicht nötig. Wir haben genug.«
»Das ist nicht nur für sie, Vater«, erklärte Kitan. »Sie wohnt mit fünf Männern am See. Darf ich heute nacht bei ihnen schlafen?«
Aus dem Schatten unterhalb des Strohdachs traf sie ein langer Blick. Die Mundwinkel im jung gealterten Gesicht waren voller Verachtung herabgezogen. »Fünf Männer. Waren wohl zu feige, ins Dorf zu kommen? Du sprichst den redarischen Akzent.«
Alena schlug die Lider nieder und blinzelte. Sie wollte nicht, daß der Bootsbauer die Nässe in ihren Augen sah. »Sie wissen nichts vom Dorf. Ich bin deinem Sohn begegnet, als ich auf der Suche nach Eßbarem war. Er hat mich hergeführt.«
»Du dienst ihnen?«
»Ich führe sie. Es sind Fremde, die nach Rethra reisen.«
Als wäre ihm ihr Anblick zuwider, drehte der Bootsbauer Alena den Rücken zu, griff nach einem Hammer und einer Holzschachtel mit Nägeln. Während er zum Bootsrumpf hinübertrat, sagte er: »Kitan, du läßt die Frau in Ruhe. Wir haben unsere Pflicht getan. Sie soll ihrer Wege ziehen.« Mit spitzen Fingern klemmte er sich Nägel zwischen die Lippen. »Kmm her«, preßte er hervor. Ohne den Hammer aus der Hand zu legen, hob er die frische Planke an den Bootsrumpf. »Kmm her, Kitn, hilf mir, die Plnke z hlten.«
Kitan reichte ihr die zwei Brote, stumm.
Als er näher zum Boot trat, schüttelte der Vater den Kopf. Die Nägel ragten wie eiserne Dornen aus seinem Mund. »Nin, nicht drt, mehr m Rnd. In der Mitte ist sie z hiß.«
Wie benommen wendete Alena sich ab. Warum tat ihr die Verachtung dieses Mannes so weh? Weil sie Kitan mochte? Nein, es war nicht Kitan. Der ernsthafte Bootsbauer sollte gut von ihr denken. Konnte sie ihm nicht erklären …? Gern hätte Alena sich umgedreht und ihm vom Ruf nach einem Menschenopfer erzählt, ihm berichtet, wie Mstislav gestorben war und die anderen, wie sie die Franken aus der Obodritenburg gerettet hatte, daß sie Embricho liebte.
Aber sie tat es nicht. Sie folgte dem kaum sichtbaren Pfad, der sie zum See bringen würde. Der Hunger siegte.
Als sie das Ufer erreicht hatte und die ersten Schritte entlang des Schilfes machte, näherten sich leichte Sprünge in ihrem Rücken. Sie drehte sich um und erblickte Kitan, der ihr in langen Sätzen
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