Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
bist bei mir: Dein Stab und deine Stütze, sie trösten mich.«
Am Morgen war mit dem Pfeifen der Vögel und den unnachgiebigen Sonnenstrahlen jede Würde von den Gräbern gewichen: Sie erwiesen sich als mit Steinen und Laub aufgeworfene Haufen, unbeholfene, ausgefranste Hügel. Tietgaud schritt eckig von einem Grab zum anderen, als wollte er die Toten noch einmal zählen, dann bellte er: »Versteht Ihr jetzt, Embricho, warum ich unbedingt nach Rethra muß? Rethra ist der Kern dieser Götzendienerei, der Kopf der Schlange. Es ist Zeit, daß sie ihr Leben aushaucht.« Der Hagere klopfte die trockenen Blätter und Zweige von seiner schwarzen Kutte, rief Alena heran. Und so brach die Gruppe auf: Wandernde entlang des schmalen Bands, das als Weg durch die Wälder und Moore pflügte. Andere reisten, unsichtbar für sie, beiderseits der Straße mit. Ein Rudel Wölfe, das das letzte Wisent vor Wochen gerissen hatte und auf leichte Beute hoffte. Ein Fuchs, der die Überreste menschlicher Jagdbeute zu fressen gelernt hatte. Zwei polabische Späher, die beauftragt waren, den Fremden zu folgen.
Zur rechten Seite des Wegs wich der Wald einer sumpfigen Niederung,
zagost
genannt. Dort glitzerte Wasser zwischenlangen Gräsern, und Froschstimmen knatterten weit ihre Ansprüche über die Ebene. Das Gefieder von Störchen hob sich weiß vor den Wäldern am südlichen Horizont ab: Ein gutes Dutzend sanft schreitender Vögel, die auf den Feuchtwiesen nach Fröschen spießten.
Wo der Weg sich anschickte, wieder in den Wald einzutauchen, kreuzte ihn eine zweite Straße. Sie führte im Nordwesten ins Gebiet der Wagrier und weiter zur fränkischen Feste Haithabu. Im Südosten überquerte sie die Stepenitz, den Grenzfluß zwischen den Polabenstämmen und dem Gebiet der Obodriten, und passierte dann die Obodritenburg Zwerin. Diese Richtung schlug Alena ein.
Trotz des fabelhaften Wetters und der Gegenwart der Franken fühlte sie sich allein. Was wußten sie davon, welchen Gefahren Alena in der Nähe Zwerins ausgesetzt sein würde und wie abenteuerlich es war, als Redarierin in Begleitung von vier Franken das Obodritenland zu durchqueren? Wie Kinder waren sie, die die Sorgen der Mutter nicht kümmerten.
Mutter! Das einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war, war der Name Alena. Sie wußte nicht, wie die Mutter ausgesehen hatte, konnte sich an den Klang ihrer Stimme nicht erinnern. Vater hatte ihr erzählt, sie sei groß und schlank gewesen. In Alenas Vorstellung flossen ihre Haare lang den Rücken herab, länger noch als die eigenen, aber von der gleichen Farbe, die bei Sonnenschein golden leuchtete und in der Dämmerung dunkel war. Warme, tiefe Augen mußte die Mutter gehabt haben und einen Mund, der meistens schwieg. Aber wenn sie sprach, mußten es sanfte Töne gewesen sein. »Nenn sie Alena«, hatte die Mutter geflüstert, als kaum noch Blut in ihrem Körper war. Das war ihre letzte Bitte gewesen. Deshalb hatte Nevopor sie ihr nicht abschlagen können. Sie hörte einfach nicht auf zu bluten, nachdem sie Alena auf die Welt gebracht hatte. Schwand langsam dahin. Wie die Farben des Tages sich auflösten am Abend, so verlor auch ihr Gesicht die Farbe,wurde blasser und blasser. Sie hatte bald nicht einmal mehr die Kraft, die Hand zu heben. Lag da wie eine Fürstin und starb. »Nenn sie Alena.«
Sie spürte die feinen, kühlen Sprenkel der Linden auf ihrem Gesicht, auf den Händen und den nackten Armen, sie roch den herben Duft der Blüten. Sicher hätte der Mönch gern die Pferde zum Einsatz gebracht, wären sie nicht von den Polaben geraubt worden.
Sie sehnte sich nach Wärme. Nach einem sicheren Arm, der sie hielt, einer Stimme, die ihr sagte, daß es alles ein gutes Ende nehmen würde. Wie viele hatten schon sterben müssen, Redarier, Franken! Auch diese vier liefen ins Verderben, geführt von der Nawyša Devka. Möglicherweise hatte der Waldherrscher sie gerettet, weil er Svarožićs Befehl gehorchte, er, das Geistwesen, das den Göttern näher war als den Irdischen. Er hatte die Franken vor den Polaben bewahrt, um das Menschenopfer in Rethra zu sichern.
Etwas kitzelte sie am Arm, dann spürte sie ein feuriges Stechen. Sie stöhnte auf, sah die Wespe gerade noch fortfliegen. »Wall und Graben, tut das weh!« Den Arm zum Gesicht erhoben, drückte sie ihre Lippen über den blutenden Stich und saugte daran. Der Speichel kühlte den Schmerz ein wenig. Als hätte sie nicht Kummer genug!
Sie löste die Lippen, pustete auf die
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