Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
Gesicht.
»Überall fehlen die Köpfe.«
»Ich weiß.«
»Warum tun sie das? Warum schneiden sie die Köpfe ab?«
Langsam konnte sie klarer sehen, bemerkte die Schatten der anderen. Es standen alle um sie herum.
»Ihr Wenden seid Barbaren!« Der Mönch spuckte auf den Boden. »Wo gehen sie hin mit den Köpfen? Zu einem düsteren Ritualplatz?«
Alena erhob sich. »Sie spießen sie auf Pfähle auf. Pfähle am Burgtor.«
Ein Gesicht hatte es gegeben, das hatte sie oft nachts im Traum gesehen: verschrumpelt, verwesend und doch mit deutlich gefletschten Zähnen, den Blick wütend auf jeden Betrachter gerichtet. Ein Obodrit war es gewesen. Niemand hatte ihr verboten, das Haupt des feindlichen Kriegers zu betrachten, obwohl sie kaum sprechen und gehen gelernt hatte und nicht recht in der Lage war zu begreifen, daß jener ein Mensch gewesen sein mußte wie sie. Auf einem Pfahl vor dem Westtor der Hauptburg schwankte der Kopf im Wind, als hole der dünne Stamm aus, ihn von sich zu schleudern. Sie war schreiend fortgerannt, aber das Bild schlich ihr nach, verfolgte sie. Immer dann tauchte es aus ihrem Gedächtnis auf, wenn sie es am wenigsten gebrauchen konnte: Wenn es dunkel war, wenn sie allein war im Haus, weil Vater sich bis in die Nacht mit den Priestern besprach. In solchen Stunden schaukelte es über der Schlafbank in der Luft und hauchte sie mit giftigem Atem an.
»Aber warum?« stammelte Audulf. »Warum sollten sie so etwas tun?«
Sie zuckte die Achseln, den Geschmack von Tränen im Mund.
Es war, als brachte das Grauen die Worte zum Versiegen. Den ganzen Tag sprach niemand mehr, schweigend arbeiteten sie, gruben Löcher mit den bloßen Händen, nutzten die Schwerter, um Wurzeln zu zerhacken, schleppten Steine heran. Der hereinbrechende Abend trieb zu immer größerer Hast an. Als sie den letzten Franken begraben hatten, war das Sonnenlicht dem fahlen Schein des Mondes gewichen.
Der Mönch knüpfte einen abgerissenen Zügel von einem der Äste und trat an Alena heran. »Kreuzt Eure Hände im Rücken.«
»Ich habe den ganzen Tag mit Euch gearbeitet«, murrte sie, »habe Franken begraben, die ich Redarierin bin. Habe ich versucht zu fliehen? Warum wollt Ihr mich fesseln? Habe ich Euch nicht versprochen, Euch zu führen?«
»Es wird Nacht.«
»Die slawischen Fürsten wollt Ihr zum Glauben an Euren Gott bekehren, aber für mich interessiert Ihr Euch scheinbar nicht im geringsten. Erwartet Ihr, daß ich Euren Worten lausche, während Ihr mich gefangen haltet?«
Erstaunt ließ der Marder die Hände sinken.
»Ihr habt mein Wort, daß ich nicht fortlaufe. Ich führe Euch nach Rethra.«
Im vernarbten Gesicht mahlten die Kiefer, die Stirn zeigte Falten.
»Vertraut mir.«
Schließlich nickte Tietgaud. »Es sei.« Er drehte ihr den Rücken zu und breitete die Arme aus. »Beten wir für die Seelen der Ermordeten.«
Die vier Männer knieten sich in der Form eines Kreuzes ins raschelnde Laub, die mondbleichen Gesichter einander zugewandt. Sie falteten die Hände über den Schößen und schlossen die Augen. Es war still.
»Darf ich …«, raunte Alena, »darf ich mit Euch beten?«
»Natürlich.« Der Mönch rutschte auf den Knien ein Stück beiseite und wies mit der Hand neben sich. Er verzog die Mundwinkel zu einem feinen Lächeln.
Sie kniete nieder. »
Otedaji
Svarožić«, hauchte sie, »vergib«, und schlug zum Schutz mit der Hand in die Luft. Es würde nützen, das Vertrauen der Franken zu erlangen. Der Dreiköpfige mußte das verstehen. Sie schloß die Augen.
»Unsere Gefährten haben heute den Tod gefunden, o Gott.« Der Mönch sprach etwas lauter, als redete er mit jemandem, der drüben bei den Gräbern stand. »Warum hastdu das zugelassen? Ist es dein Wille, unseren Zug zu verkleinern, wie du das Heer Gideons zusammenschrumpfen ließest? Dann wollen wir nicht den Mut verlieren. Aber wir bitten dich, die Seelen unserer Mitstreiter zur Schar der Geretteten zu zählen. Laß sie dir nicht entreißen im Streit mit dem Bösen! Wenn er darum kämpft, sie zu gewinnen, bevor in diesen Jahren das letzte Gericht anbricht, beweise du deine Liebe und Kraft, und vergib ihnen ihre Fehler. Denke daran, daß sie für dich ihr Leben verloren haben im Gebiet der Heiden. Und begleite auch uns, die wir leben.
Nam et si ambulavero in medio umbrae mortis non timebo mala, quoniam tu mecum es virga tua et baculus tuus: ipsa me consolata sunt.
Wenngleich ich wandere im Tal von Finsternis – ich fürchte nicht Böses, denn du
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