Die Principessa
Tabernakels. Aber war das entscheidend? Er hatte ja die Anlage für die Piazza Navona entworfen, man hatte den Grundriss den Verhältnissen anpassen müssen.
Plötzlich spürte er, wie sein Herz raste. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen und zugleich war er unfähig, sich auch nur einen Schritt vom Fleck zu rühren. Das geschweifte Oval, die vierfache Säulenreihe – das konnte kein Zufall sein! Aber wie war das möglich? Bernini hatte seine Pläne niemals gesehen. Hatte ein böser Dämon ihnen die gleiche Idee eingegeben, um sie zu verspotten?
Francesco fühlte sich genarrt wie ein Affe, der hinter den Spiegel greift, um dort nach dem eigenen Körper zu suchen. Wie anders aber konnte er sich Gewissheit verschaffen? Die Anlage entsprach in allen wesentlichen Punkten seinen Plänen, so weit das Auge reichte. Sollte es einen Unterschied geben, musste die Wahrheit hinter den Dingen liegen, jenseits des äußeren Scheins.
Francesco stöhnte auf. Noch war ihm die Wahrheit verschlossen, doch er hielt den Schlüssel in der Hand. Wenn dies wirklich
seine
Piazza war, dann barg sie ein Geheimnis – das Geheimnis der Vollkommenheit. War dieser Platz vollkommen? Nichts hoffte, nichts fürchtete er mehr. Aber besaß er die Kraft, die Antwort zu ertragen? Es war so leicht, sie zu erfahren, er brauchte nur ein paar wenige Schritte zu tun, um von der Ahnung zur Gewissheit zu gelangen. Und doch war nichts schwerer als dies.
Francesco machte einen Schritt von dem Obelisken fort, dann noch einen, langsam und mühsam, als stemmten sich unsichtbare Kräfte gegen ihn, und doch wurde er gleichzeitig unwiderstehlich angezogen von einem Punkt. Er kannte die Stelle genau, selbst mit geschlossenen Augen würde er sie nicht verfehlen, unzählige Male hatte er sie ja in seinen Entwürfen markiert und betrachtet.
Dann war es nur noch ein Schritt. Am ganzen Körper zitternd vor Erregung, blieb er stehen, die Augen starr auf den Punkt gerichtet, von panischer Angst und brennender Erwartung erfüllt, ein Verzweifelter, der vor das Orakel tritt. Da war er, der Brennpunkt der Ellipse, das Zentrum der Erkenntnis. Francesco zögerte, zögerte lange, länger noch als Adam, bevor er von Eva den Apfel nahm. Sollte er ihn wagen, diesen einen letzten, alles entscheidenden Schritt? Er fühlte sich so allein, als wäre er der einzige Mensch auf Erden: ein winziges Staubkorn in Gottes unendlichem Weltall.
Da berührte ein Sonnenstrahl sein Gesicht, hell und warm, und im selben Augenblick hatte alles Denken und Zögern ein Ende. Es geschah ganz von allein. Ein letzter, kleiner Schritt – und der Platz gab sein Geheimnis preis.
Ja, die Piazza war vollkommen!
Ergriffen fiel Francesco auf die Knie. Vor seinen Augen vollzog sich das Wunder, das er in der Einsamkeit seines Herzens erträumt hatte. Sein Plan ging auf, seine Berechnungen hatten ihn nicht getrogen: Alles geschah nach seinem Willen. Als würden unsichtbare Engel riesige Kulissen fortschieben, öffneten sich die Kolonnaden vor ihm zur Welt, zur Wahrheit, zum Licht. Während die Säulen hintereinander verschwanden, brachen die Wände auf, alle Erdenschwere fiel von den gewaltigen Steinmassen ab, um einer wunderbaren Leichtigkeit zu weichen, als würden nicht vier Säulenreihen die Piazza säumen, sondern nur eine einzige, hinter der nun die Sonne im morgenhellen Glanz erstrahlte, auftauchend aus dem Häusermeer der Ewigen Stadt wie aus dem Meer der Zeit.
Die Hände gefaltet, von einem ungeheuren Staunen erfüllt, konnte Francesco die Augen nicht lassen von diesem Anblick. Alle Gefühle, derer ein Mensch fähig ist, stürmten auf ihn ein. Während seine Seele sich jubilierend zum Himmel erhob, als wäre sie nach langer, langer Haft aus einem engen, finsteren Kerker befreit, rannen Tränen des Glücks seine Wangen hinab. Das göttliche Schauspiel, das sich vor seinen Augen vollzog, war sein Werk – die Summe seines Lebens. Alles war so, wie er es erträumt und erhofft und ersehnt hatte, alle Leichtigkeit und Schönheit, die er je in sich gespürt hatte, ohne sie zum Ausdruck bringen zu können – hier war sie gestaltet! Er hatte Gott verstanden. Hier, in seinem Werk, sprach der Heilige Geist zu den Menschen. Mit der Hilfe des Schöpfers hatte er, Francesco Borromini, den richtigen Standpunkt gewählt, den Standpunkt Gottes und des Glaubens, von dem aus sich die Wirklichkeit hinter den Dingen erschloss, jenseits aller Begrenzung. Hier auf diesem Platz offenbarte sich heute und für alle
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