Die Prinzen von Amber
Trumpf. Ich wartete, bis auch die anderen das entsprechende Bild vor sich hatten. Dann sagte ich: »Wir wollen uns koordinieren. Sind alle bereit?«
Achtmal Zustimmung.
»Dann los. Versucht es. –
Jetzt!«
Ich betrachtete meine Karte. Brands Gesichtszüge ähnelten den meinen, doch er war kleiner und schmaler gebaut. Sein Haar erinnerte eher an Fiona. Er trug einen grünen Reitanzug und saß auf einem weißen Pferd. Wie lange war das jetzt her? Ich überlegte. Brand war stets ein Träumer gewesen, ein Mystiker, ein Poet – stets desillisioniert oder aufgekratzt, zynisch oder vertrauensselig. Im breiten Mittelfeld schien für seine Gefühle kein Raum zu sein. Manisch-depressiv – das ist eine zu vage Bezeichnung für seinen vielschichtigen Charakter, doch mag das Wort eine gewisse Zielrichtung andeuten, die Vielzahl von Fähigkeiten, mit denen sein Lebensweg bestimmt war. Aus diesem Zustand heraus gab es Augenblicke, da ich ihn, ich muß es zugeben, so charmant, rücksichtsvoll und loyal fand, daß ich ihn über all meine anderen Geschwister stellte. In anderen Momenten jedoch konnte er dermaßen bitter, sarkastisch und rundheraus brutal sein, daß ich seine Gesellschaft mied aus Angst, ich könnte ihm etwas antun. Unser letztes Zusammensein war negativer Art gewesen, kurze Zeit bevor Eric und ich jene Auseinandersetzung hatten, die zu meinem Exil führte.
... Und das waren meine Gedanken und Gefühle, während ich seinen Trumpf betrachtete und ihn mit dem Verstand, mit dem Willen zu erreichen versuchte, während ich die Leere entstehen ließ, die er ausfüllen sollte. Ringsum gingen die anderen eigene Erinnerungen durch und taten dasselbe.
Langsam veränderte sich die Karte wie in einem Traum; sie schien an Tiefe zu gewinnen. Es folgte das vertraute Verschwimmen und das Gefühl von Bewegung, das den Kontakt mit dem Gesuchten ankündigt. Der Trumpf fühlte sich unter meinen Fingerspitzen kälter an, dann strömten Dinge herbei und formierten sich, errangen eine plötzliche Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, nachhaltig, dramatisch, komplett.
Er schien sich in einer Zelle zu befinden. Hinter ihm ragte eine Steinmauer auf. Auf dem Boden lag Stroh. Er war angekettet, und seine Kette führte durch einen riesigen Ring, der in die Wand über ihm eingelassen war. Es war eine ziemlich lange Kette, die ihm ausreichend Bewegung gestattete. Im Augenblick nutzte er diese Tatsache aus; er lag ausgebreitet auf einem Haufen aus Stroh und Lumpen in einer Ecke. Kopfhaare und Bart waren ziemlich lang, sein Gesicht wirkte dünner, als ich es je zuvor gesehen hatte. Seine Kleidung war zerrissen und verdreckt. Er schien zu schlafen. Unwillkürlich mußte ich an meine eigene Gefangenschaft denken – an die Gerüche, die Kälte, die übelriechende Nahrung, die Feuchtigkeit, die Einsamkeit – an den Wahnsinn, der kam und ging. Wenigstens hatte Brand seine Augen noch. Plötzlich begannen seine Augenlider zu zucken, als mehrere von uns seinen Namen riefen. Er öffnete seine grünen Augen; sie hatten einen matten, leeren Ausdruck.
War er betäubt worden? Oder glaubte er eine Halluzination zu erleben?
Doch plötzlich kehrte der alte Geist zurück. Er richtete sich auf, streckte die Hände aus.
»Brüder!« sagte er. »Schwestern ...«
»Ich komme!« ertönte ein Schrei, der das Zimmer erzittern ließ.
Gérard war aufgesprungen und hatte dabei seinen Stuhl umgeworfen. Er stürmte durch die Bibliothek und riß eine riesige Streitaxt von den Wandpflöcken. Er band sie sich um das Gelenk der Hand, in der er den Trumpf hielt. Eine Sekunde lang erstarrte er, intensiv auf die Karte starrend. Dann streckte er die leere Hand aus und war plötzlich drüben, Brand umfassend, der sich diesen Augenblick aussuchte, um wieder ohnmächtig zu werden. Das Bild begann zu flackern. Der Kontakt war unterbrochen.
Fluchend suchte ich in meinem Spiel nach Gérards Trumpf. Mehrere andere schienen dasselbe zu tun. Als ich das Bild fand, suchte ich den Kontakt. Langsam das Verschmelzen, das Herumdrehen, das Neuformen. Da!
Gérard hatte die Kette straff über die Mauersteine gezogen und hieb mit der Axt darauf ein. Doch das Ding war stark und widerstand den mächtigen Hieben. Nach längerer Zeit sahen mehrere Kettenglieder zerdrückt und verkratzt aus, doch inzwischen hatten die widerhallenden Axtschläge die Wächter alarmiert.
Geräusche ertönten von links – ein Rasseln, das Scharren von Riegeln, das Knirschen von Türangeln. Mein Wahrnehmungsfeld reichte
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