Die Prinzen von Amber
war das Licht mehr als ausreichend. Als ich eine Stelle erreichte, von der aus ich klar überschauen konnte, was vor mir lag, blieb ich stehen und stützte mich schwächlich auf meinen Stab.
»Was ist los?« fragte Hugi.
Aber ich brachte kein Wort heraus. Ich deutete lediglich auf das weite Ödland, das irgendwo unterhalb des gegenüberliegenden Plateaurandes begann und sich mindestens vierzig Meilen weit erstreckte, ehe es an einer weiteren Bergkette endete. Und weit entfernt zur Linken erstreckte sich in gewohnter Klarheit die schwarze Straße.
»Die Wüste da?« fragte er. »Ich hätte dir gleich sagen können, daß sie da ist. Warum hast du mich nicht gefragt?«
Ich stieß einen Laut aus, halb Ächzen, halb Schluchzen, und ließ mich langsam zu Boden sinken.
Wie lange ich in dieser Stellung verharrte, weiß ich nicht genau. Ich hatte beinahe das Gefühl, im Delirium zu sein. Irgendwann glaubte ich sogar eine Lösung auszumachen, wenn es in mir auch eine Stimme gab, die sich heftig dagegen aussprach. Endlich ließen mich das Tosen des Sturms und Hugis Geplapper wieder zu mir kommen.
»Ich schaffe es nicht hinüber«, flüsterte ich. »Es geht nicht.«
»Du sagst, du kannst es nicht schaffen«, sagte Hugi. »Aber du hast nicht versagt. Wenn man sich bemüht, gibt es kein Versagen und auch keinen Sieg. Das ist alles nur eine Illusion des Ego.«
Langsam richtete ich mich auf die Knie. »Ich habe nicht gesagt, ich hätte versagt.«
»Du sagtest, du könntest dein Ziel nicht erreichen.«
Ich blickte zu dem näherkriechenden Unwetter zurück, dessen Blitze nun deutlich zu erkennen waren.
»Richtig, so schaffe ich es nicht. Aber wenn Vater es nicht geschafft hat, muß ich etwas versuchen, von dem Brand mich überzeugen wollte, daß nur er es vermag. Ich muß ein neues Muster schaffen, hier und jetzt.«
»Du? Ein neues Muster schaffen? Wenn Oberon das nicht gelungen ist, wie könnte es ein Mann schaffen, der sich kaum noch auf den Füßen hält? Nein, Corwin! Ergib dich in dein Schicksal, das ist in dieser Lage die größte Tugend, der du dich verschreiben kannst.«
Ich hob den Kopf und senkte den Stab auf den Boden. Hugi flatterte herab und landete daneben. Ich sah ihn an.
»Du willst nichts von dem glauben, was ich dir gesagt habe, nicht wahr?« fragte ich. »Aber egal. Der Graben zwischen unseren Ansichten läßt sich nicht zuschütten. Für mich sind Sehnsüchte eine verdeckte Identität und das Streben nach Wachstum. Für dich nicht.« Ich hob die Hände und legte sie auf die Knie. »Wenn für dich die Vereinigung mit dem Absoluten das Größte ist, warum fliegst du nicht los, um dich ihm anzuschließen, in der Form des allesdurchdringenden Chaos, das sich uns nähert? Wenn ich hier versage, wird es das Absolute werden. Was mich betrifft, so muß ich versuchen, solange sich noch ein Atem in mir regt, ein Muster dagegen zu errichten. Ich tue dies, weil ich bin, was ich bin, und ich bin der Mann, der König von Amber hätte werden können.«
Hugi senkte den Kopf.
»Eher sehe ich dich Dreck fressen«, sagte er und lachte.
Meine Hand zuckte vor, und ich drehte ihm den Hals um, wobei ich mir wünschte, ich hätte die Zeit gehabt, ein Feuer anzuzünden. Obwohl es wie ein Opfer aussah, vermochte ich nicht zu sagen, wem moralisch der Sieg gebührte, da ich es auf jeden Fall hatte tun wollen.
9
...
Cassis, und der Geruch der Kastanienblüten. Auf der vollen Länge der Champs-Elysées schäumten die Kastanienbäume in weißer Pracht ...
Ich erinnerte mich an das Plätschern der Brunnen auf dem Place de la Concorde ... Und dann die Rue de la Seine hinab und am Seineufer entlang, der Geruch der alten Bücher, der Geruch des Flusses ... der Duft der Kastanienblüten ...
Warum erinnerte ich mich plötzlich an das Jahr 1905 und das Paris dieses Jahres auf der Schatten-Erde – bis auf den Umstand, daß ich in jenem Jahr sehr glücklich gewesen war und mir automatisch einen Ausgleich für die Gegenwart gesucht hatte? Ja ...
Weißer Absinth, Amer Picon, Grenadinen ... Wilde Erdbeeren mit Crème d´Isigny ... Schach im Café de la Régence mit Schauspielern der Comédie Française, die gleich gegenüber lag ... Die Pferderennen in Chantilly ... Abende im Boîte à Fursy an der Rue Pigalle ...
Energisch stellte ich den linken Fuß vor den rechten, den rechten vor den linken. In der linken Hand hielt ich die Kette, an der das Juwel baumelte – und ich hielt es in die Höhe, damit ich in die Tiefen des Steins
Weitere Kostenlose Bücher