Die Prinzen von Queens - Roman
Augen rutscht. »Wie seh ich aus?«, fragt er.
»Vollkommen bescheuert«, sagt Winston. Er fährt sich mit der Hand über den Alopezie-Flickenteppich auf seinem Kopf, wie er es immer tut, wenn er unbedeckt ist.
»Was meinst du, wie bescheuert du mit dem Teil aussiehst.«
Als Winston nach der Kappe greift, zieht Alfredo den Kopf weg.
»Ich brauch die«, sagt Winston. »Es regnet.«
»Du wirst so schnell rennen, dass du gar nicht nass werden kannst.«
»Sie ist mein Markenzeichen.«
»Ich weiß, aber nicht heute Nacht, okay?« Er dreht Winston Richtung Tür. Auf der anderen Straßenseite sitzt vielleicht jemand, der Winston genauso gern umlegen würde wie Alfredo. In einer idealen Welt würde Alfredo demjenigen die fünf Minuten geben, um zum Hinterausgang des Ladens zu gelangen. Aber jetzt, wo sich Max Marshmallows Stimme durch den Gang nähert, hat Alfredo nicht die Zeit. Außerdem ist die Welt nicht ideal. Die Welt ist, wie sie ist, und in dieser Welt schiebt er Winston zur Tür hinaus auf die Straße.
»Lauf«, flüstert Alfredo.
Vielleicht kann Winston ihn nicht hören. Er drückt sich den Karton an die Brust. Er steckt den Kopf unter der Markise vor und schaut die Straße auf und ab. Nach Manhattan und Flushing. Alfredo haut mit der Faust gegen die Glastür, und Winston zischt los. Oder versucht es zumindest. Er läuft mit der Motorik eines Seehundes an Land, den Schuhkarton unter die wackelnde Flosse geklemmt. Von der Highschool, aus dem Sportunterricht, den mit orangen Hütchen markierten Staffelläufen weiß Alfredo bereits, was kommt, und er spürt schon jetzt ein körperliches Unbehagen. Winston rennt auf die Straße. Dichter Regen fällt, und er platscht durch Pfützen, sein Kopf rotiert wie auf einer Drehscheibe. Er sieht verwirrt aus, als hätte man ihn über fremdem Feindesland abgeworfen. Sein Fuß verhakt sich in einem unsichtbaren Stolperdraht, sein freier Arm schnellt vor, um das Gleichgewicht zu halten. Es ist so weit. Verknotete Füße. Windmühlenarme. Alfredo presst das Gesicht gegen die Tür, das Glas ist kalt an seiner Stirn. Er sieht, wie Winston gegen Marc Franschettas aufgemotzten Camaro knallt, der drei Wagen hinter dem Impala der Zivilen steht. Die Alarmanlage springt an. Das Hup-Hup-Hup , Wiu-wiu-wiu , kennen Alfredo und jeder andere New Yorker in- und auswendig. Die blauen Frontscheinwerfer blinken im Rhythmus mit, der Wagen veranstaltet seine ganz eigene private Party. Alfredo ist sich nicht sicher – es ist schwer zu erkennen –, aber es hat den Anschein, als wären die Bullen tief in ihre Sitze gerutscht, als wäre ihnen die unmittelbare Nähe zu Lichtern und Sirene peinlich. Trotz allem hat Winston den Karton nicht fallen lassen. Aber er sieht furchtbar verletzlich aus, wie er da so mutterseelenallein mitten auf der Straße sitzt.
»Alfredo!«, ruft Max.
Alfredo tritt von der Tür weg und trifft im Biergang, wo »40s« und Sixpacks beschlagen in summenden, brummenden Kühlschränken stehen, auf Max. Die Schränke sind innen beleuchtet, was jede Flasche einzeln zum Glühen bringt. Es sind die einzigen Lichtquellen im Laden – bis auf das rote Auge des Rauchmelders –, und sie ziehen Max und Alfredo an.
»Lass mich den Schlüssel holen«, sagt Max.
»Den Schlüssel?«
»Den Schlüssel«, sagt Max. In seiner Aufgeregtheit greift er nach dem Nächstbesten – dem Griff der Kühlschranktür –, um sich abzustützen. »Den kleinen gelben Kassenschlüssel auf dem Tresen. Gleich neben der Kasse.«
»Richtig«, sagt Alfredo.
»Lass mich ihn kurz holen.«
Alfredo würde am liebsten das Gesicht in der Brust des alten Mannes vergraben. Selbst ohne T-Shirt, mit freiem Oberkörper, entblößt, fühlt er sich vor Max wohl. Er ist gute zwanzig Jahre älter als Jose Sr., aber in einem anderen Leben, einem Leben, in dem Alfredo Jude und weiß wäre und das, sagen wir, 1962 begonnen hätte, hätte dieser alte Knacker sein Vater sein können. Alfredo würde Saul heißen oder irgendwie so ähnlich. Und in einem anderen New York leben, in dem die Mets im Jahre 2000 die Yankees schlugen, wo Estes Clemens einen vor die Murmel knallte und die Twin Towers noch standen, wenn schon nicht beide, dann doch wenigstens einer. Während Alfredo auf die Katastrophe seines Lebens zusteuert, kann er nicht anders, als an diese hypothetischen Welten zu denken, die irgendwo in einer Ecke des Universums existieren. Er wäre Vladmir niemals an die Gurgel gegangen. Jose Sr. hätte den Laden nicht
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