Die Prinzen von Queens - Roman
spielt Winston eher defensiv. Er wartet so lange, bis sein Gegner zu einer Attacke ansetzt, tritt dann, noch bevor das nächste Bild aufblitzt, selbst in Aktion und prügelt ihm die virtuelle Scheiße aus dem Leib. Ein Beispiel: Mit einer flüssigen Bewegung drückt der chinesische Junge seine Knöpfe und biegt seinen Joystick zur Seite, woraufhin seine Bildschirmfigur, Ninja Ryu, einen grobkörnigen Feuerball aus seinen grobkörnigen Fingerspitzen schießt. Aber Winston kann ja zwischen die Bilder gucken. Seine Figur, die kaum fünfundvierzig Kilo schwere Chun-Li, ist längst über Ryu hinweggehüpft. Schwer atmend kauert sie hinter ihm. Während der Feuerball ins Nichts fliegt, holt Chun-Li den Ninja mit einem tiefen Roundhouse-Kick von den Beinen. Während er fällt, befördert sie ihn mit einem Kinnhaken wieder in die Luft, und erledigt ihn endgültig mit einer Serie von Schlägen und Tritten: tief, mittig und hoch. Eine Acht-Schläge-Kombi. Der Feuerball rotiert aus dem Blickfeld, verschwindet von der Bühne nach links in der Kulisse. Game over .
Die Jungs im Publikum schauen sich an. Beinahe alle, stellt Alfredo sich vor, sind von Flushing hierher gefahren, mit der 7 von der Main Street zur 82nd, um Winston in einem Spiel herauszufordern, das fast so alt ist wie sie selbst. Diejenigen, die Winston noch nie haben spielen sehen, machen nun große Augen.
Die Welt der Computerzocker auf Wettkampfniveau ist mörderisch. Bevölkert wird sie beinahe durchweg von sozial Geächteten: Stotterern, Müfflern, Pickelgesichtern, Kahlköpfigen, denjenigen, die Magic -Karten sammeln und sich beim Völkerball in der hintersten Ecke der Turnhalle herumdrücken. Jemandem bei Street Fighter II den Arsch zu versohlen, gibt ihnen die Chance, ihren Mann zu stehen, selbst mal jemandem krumm zu kommen und eine dicke Lippe zu riskieren. Aber das ist nicht Winstons Stil. Er macht vor dem Chinesen eine leichte Verbeugung, wendet sich dann den Zuschauern zu und fragt leise: »Wer ist der Nächste?«
Niemand drängelt sich vor. Keiner will sich blamieren, und so driften die Zaungäste Richtung Tresen ab, um sich mit Pizza und Knoblauchbrot zu versorgen. Andere, diejenigen mit besonders zarten Egos, verlassen die Pizzeria gleich ganz und machen sich auf nach Flushing, treten die Flucht vor Winston an, als wäre er ein feuerspeiender Godzilla. Das ist mein bester Freund, würde Alfredo ihnen gerne sagen. Wie gefällt euch das?
V or der Pizzeria verfällt Alfredo dann in seinen üblichen Sermon, wie nach jedem Besuch bei Gianni’s: Dass Winston sich ausbeuten lasse wie ein Zirkusbär, dass er sicher für neunzig Prozent des Umsatzes verantwortlich sei, dass dieser fette Dagobert bestimmt jeden Samstagmorgen aufwache und die Vierteldollars mit der Schubkarre zur Bank transportiere, dass er, Alfredo, zwar wisse, dass Winston seine Pizza umsonst bekomme und so viel Mountain Dew, wie er will, aber dass er vielleicht mal entlohnt werden sollte als Geschäftspartner, der er ja sei – im Klartext also bar auf die Kralle.
»Griff in die Schubkarre, wenn du weißt, was ich meine.«
Winston sieht geradeaus, starrt aus einem leeren Gesicht. Seine Augen sind geweitet, die Pupillen verfinstert. »Was ist denn jetzt mit dem X?«, sagt er. Hinter ihm umkreisen sich zwei weiße Kids beim Spaßboxen. Winston ignoriert sie. »Teilen wir uns ne Pille?«, fragt er.
»Der Scheiß ist doch für meinen Bruder«, sagt Alfredo.
»Ne, ist ja klar. Ich meine doch auch bloß ne halbe.«
Der ältere der beiden Jungen – er muss so um die zwölf sein – erwischt den Jüngeren mit der flachen Hand heftig am Kopf. Alfredo würde sie gerne bitten aufzuhören, aber heute hat er mit Kindern eher glücklos kommuniziert, außerdem ist es nicht seine Aufgabe, den Nachwuchs anderer Leute zu bevatern.
»Meinst du, dein Bruder merkt’s, wenn eine Pille fehlt?«, sagt Winston.
Und weil Winston nicht nur ein Ausnahmetalent in Sachen Videospiele ist, sondern auch eine erfahrene und hartnäckige Nervensäge, weil Alfredo ihm Geld schuldet und weil er möglicherweise noch immer von dem Zwischenfall mit Vladimir erschüttert ist und es angeblich der letzte Abend ist, an dem er Drogen nimmt (auch wenn Alfredo die Augen verdrehen will, wenn er den Scheiß hört, verlangt die Freundschaft doch, dass er so tut, als glaubte er ihm), und weil, jetzt mal ernsthaft, was ist schon eine Pille mehr oder weniger, fünfzig ist eine schöne runde Zahl, klar, aber Tariq wird es nie
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