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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Händen über den Bart streicht. An der anderen Wand: noch mehr Elektrokram, noch ein Tresen, noch ein Araber. Tariq braucht einen Moment, bis er begreift, dass die Männer keine Zwillinge sind. Es gibt nur einen Mann und nur einen Tresen. Die andere Hälfte des Ladens ist ein Spiegelbild.
    Tariq legt die Hand flach ans Schaufenster. Er weiß, dass er keine Angst hat, Isabel zu sehen. Nicht im Geringsten. Absolut nicht. Nein, in diesen Laden ist er gerannt aus Angst, sie könnte möglicherweise ihn sehen. Denn bevor es dazu kommt, muss noch einiges erledigt werden..
    Tariq ersteht bei dem Araber eine Armbanduhr, was ganz zufällig auch der allererste Punkt auf seiner Liste gewesen ist. Zufall? Kann es Zufall sein, dass er von all den Läden auf der Roosevelt Avenue ausgerechnet in diesen einen gehechtet ist, eine Elektronikklitsche, von deren Existenz er noch nicht einmal gewusst hatte? Natürlich nicht. Zufälle gibt es nicht, egal ob glückliche oder sonstige. Tariq ist auf den geraden Pfad geführt worden.
    Zusätzlich zu den Klamotten, die er anhat (einfaches weißes T-Shirt, schicke, gummibesohlte Converse, eine von Häftlingen genähte Karottenjeans, die knapp oberhalb der Knöchel endet), und zusätzlich zu der Fahrkarte bis Grand Central Station, dem grünen Merkblatt mit den Bewährungsauflagen und den neunzehn sterilen Wundverschlussstreifen auf seiner Wange hat ihm die Strafanstalt Fishkill zur Entlassung zwei Zwanzigdollarscheine mitgegeben. Gratis. Für die abgesessene Zeit. Vielen Dank für die unvergesslichen Momente. Mit dem einen Zwanziger hatte er schon eine MetroCard gekauft, und der Automat hatte das Wechselgeld ausgespuckt, achtzehn Golddollarmünzen, die er in seinem Leben noch nie gesehen hat. Er ist kurz weg, und sie ändern die Währung? Im Ernst? Statt Washington oder Lincoln ist auf der Münze nun eine junge Frau abgebildet, an deren Schulter ein Baby schläft. Selbst sie, diese mondgesichtige Frau, erinnert ihn an Isabel. Mit diesen Münzen bezahlt er die Uhr.
    Es ist eine Casio F-91W, ein wasserfestes Modell (nicht direkt eine Taucheruhr, aber was soll’s?) mit Weckfunktion, Stoppuhr, Digitalanzeige und einem leichten Plastikarmband. Sie kostet zwölf Dollar und ist somit die einzige Uhr, die er sich leisten kann. Er drückt auf einen Knopf an der Seite, wodurch eigentlich die Anzeige beleuchtet werden soll. Keine Sorge, erklärt ihm der Araber. Dieses Feature kommt erst nachts richtig zur Geltung. Nachdem er die Uhr bezahlt hat, wendet Tariq sich ab, weil ihm sein breites Grinsen peinlich ist.
    Wann genau gingen in der Haftanstalt Fishkill immer die Lichter aus? Tariq weiß es nicht. Es hatte nie eine Rolle gespielt. Der Kalender, sicher, um die vergehenden Tage abzuhaken – aber Armbanduhren? Stunden? Minuten? Was nutzten sie schon an einem Ort mit kompletter Überwachung, wo einem ständig jemand sagte, wann man sich aufzustellen hatte – zum Durchzählen, bei Durchsuchungen nach verbotenen Gegenständen oder in der Kantine für den Fraß aus totgekochtem Rindfleisch, das so ledrig war wie eine Drachenzunge. Aber jetzt ist ein niegelnagelneuer Morgen, Tariq. Heute ist nach zweieinhalb Jahren der erste Tag, an dem du einen Grund hast, die Uhrzeit zu erfahren. Wie das Buch sagt:
    Er ist’s, der gemacht die Sonne zu einer Leuchte und den Mond zu einem Licht; und verordnet hat Er ihm Wohnungen, auf daß ihr wisset die Anzahl der Jahre und die Berechnung (der Zeit). Und erschaffen hat Allah dies allein zur Wahrheit. Klar macht Er die Zeichen für ein begreifend Volk.
    Tariq tritt mit seiner digitalen Casio F-91W vor den Laden; im Licht der Sonne sieht sie noch mickriger aus. Das Armband fühlt sich schmierig an, als sei sie bereits getragen worden. Er sucht die Oberfläche der Uhr nach Kratzern ab. Ganz offensichtlich hat der Araber Tariq, als er mit seinen kaputten Turnschuhen und seinen Knastjeans in den Laden kam, für eine Art Penner gehalten und ihm deshalb eine billige, gebrauchte, schmierige Casio verkauft. Tariq schiebt die Uhr an seinem Handgelenk hin und her. Und wenn er in den Laden zurückgehen würde … aber das macht er natürlich nicht. Beweisen, dass die Uhr gebraucht ist, kann er nicht. Und, viel wichtiger, Tariq hat eine Agenda, der es zu folgen gilt. Aber wenn doch? Was, wenn er in den Laden zurückginge und die Uhr im Gesicht des Mannes zertrümmern würde? Seine Nase würde zu Bruch gehen, natürlich. Ihm würden möglicherweise die Lippen aufplatzen, die Zähne

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