Die Prinzen von Queens - Roman
schlafen konnte.
Eine Stunde später kam die Lehrerin (wie hieß sie denn noch?) auf Zehenspitzen zurück ins Zimmer, als wäre es Vladimirs Büro und nicht ihres. Hinter ihr kam ein Mann in dunklen Hosen und Flanellhemd herein. Er sah wie ein Schreiner aus, trug aber den dickborstigen Schnäuzer aller Polizeikommissare dieser Welt. Die Lehrerin legte ihm eine Hand auf die Brust, vielleicht aus Angst, er würde sich auf Vladimir stürzen und ihn fortschaffen.
»Da ist er, Liebling«, sagte sie. »Der Junge.«
Liebling trat vor, knackte dabei mit den Fingern. Er leckte den Daumen an und wischte einen Streifen Lidschatten von Vladimirs Gesicht. Dann schnüffelte er an Vladimirs Haaren.
»Gemüse?«, sagte er. Er grinste das Kind an und dann, umso breiter und mit der oftmals leicht herablassenden Haltung des männlichen Teils eines Pärchens, die Lehrerin. »Ich denke, wir haben es hier mit einem kleinen Mann zu tun, der gerne Geschichten erzählt.«
»Vladimir?«, sagte die Lehrerin.
Jetzt konnte er nur noch eine Karte spielen. »Meine Mutti«, sagte er. »Sie ist krank.«
J ahre später, weit in der Zukunft – als Juniorprofessor für slavische Sprachen und Literatur an einem kleinen College im mittleren Westen und mit Bauchansatz –, wird er diese Anekdote in seiner Vorlesung zu Anton Pawlowitsch Tschechows Erzählung »Der Kuss« zum Besten geben, die eigene Erfahrung früher unerwiderter Liebe nutzen, um zum Ende von Tschechows Geschichte überzuleiten:
Und die ganze Welt, das ganze Leben erschienen Rjabowitsch als eine unverständliche, zwecklose Mystifikation … Als er aber die Augen von dem Wasser abwandte und auf den Himmel blickte, fiel es ihm wieder ein, wie das Schicksal in der Person einer unbekannten Frau ihn aus Versehen beglückt hatte; er dachte wieder an die Träume und Gebilde des Sommers und das Leben erschien ihm außergewöhnlich spärlich, arm und farblos …
Damit wird Juniorprofessor Shifrin sich zu pädagogischen Zwecken allerdings ein wenig aus dem Fenster lehnen, sich was zurechtflunkern, ein weiteres Märchen in die Welt setzen. Denn als ihn die hübsche blonde Lehrerin aus dem Büro schickte, erschien ihm das Leben beileibe nicht außergewöhnlich spärlich, arm und farblos. Er schmiss sich auch nicht wie Rjabowitsch auf sein Bett und zürnte seinem grausamen Schicksal. Nein, Vladimir wurde nur noch hungriger nach Liebe. Nicht nach der Liebe der Lehrerin – dank des kurzen Gedächtnisses von Kindern und Romantikern hatte er beinahe unmittelbar danach mit ihr abgeschlossen. Stattdessen wurde Vladimir immer hungriger nach der Liebe von Frauen, denen er nie begegnet war, deren Gesichter er noch nie gesehen hatte und deren Namen er noch nicht kannte.
Namen wie Jessica Yoffe, Tonja Walit oder Marina Duwenskaja. Mädchen, die nebenan wohnten oder in der Schule vor ihm saßen mit ihren feinen blonden Nackenhärchen. In der vierten Klasse war Vladimir in ein Mädchen namens Elena verknallt gewesen, aber Andrej (Vladimirs bester Freund) ebenfalls, also lenkte Vladimir seine amourösen Energien auf Swetlana um, bis dann Sergej (der monströse Schulhofschläger der Klasse) Anspruch auf sie erhob und Vladimir gezwungen war, sich zurückzuziehen. Ein Liebesgedicht, dass er ihr geschrieben hatte (na ja, eigentlich abgeschrieben), schmachtete in seinem Pult vor sich hin, bis ein Hausmeister es am Ende des Schuljahrs ungelesen wegwarf. In der fünften Klasse fragte Vladimir Olga Gusewa, ob sie mit ihm zum Jahresabschlussball gehen wolle. Sie sagte zu, was ein stürmisches Hochgefühl auslöste, gefolgt von stechender Angst, denn dies war Vladimirs erste Verabredung, und er konnte noch nicht tanzen. Dann trennte sich die blondere, beliebtere Anastasia Domani von ihrem Freund, und das Ganze wurde richtig kompliziert. Die trostbedürftige Anastasia ließ ihre Freunde – durch eine Reihe kryptischer Botschaften und geflüsterter Hinweise – Vladimirs Freunden andeuten, dass eine Vladimir-Anastasia-Fusion denkbar sei, und als die Aktien günstig standen, sägte Vladimir Olga ab und ging mit Anastasia. Innerhalb von Tagen allerdings beendete Anastasia die Sache wieder. Als Vladimir erneut Olga fragte, ob sie nicht doch mit zum Ball käme, verlangte sie von ihm, auf die Knie zu gehen und in Anwesenheit der gesamten Schule darum zu betteln. Vor den Augen seiner johlenden Klassenkameraden sank er zu Boden, die Hände vor der Brust gefaltet. Wo war nur sein Selbstvertrauen geblieben?
Und tanzen
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