Die Prinzen von Queens - Roman
konnte er noch immer nicht. Wäre seine Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie eine Platte auflegen und es ihm beibringen können. Nimm meine Hand. Hier, so. Schau nicht auf die Füße. Hier, Vladimir. Ja, sehr schön. Jetzt beweg die Füße. Wunderbar. Oh, mein wunderbarer kleiner Mann. Aber Vladimir hatte ja nur Misha. Der brachte ihm zwar nicht das Tanzen bei, aber er kaufte Vladimir ein Anstecksträußchen. Er zeigte ihm sogar, wie er es an Olgas fahlem dünnem Handgelenk festbinden musste.
In dem Sommer, jenem Sommer, bevor er und Misha ein Flugzeug in Richtung John F. Kennedy International Airport bestiegen, bereitete Vladimir sich vor, indem er amerikanische Spielfilme mit Untertiteln guckte. Schlau wurde er aus keinem einzigen. Es war wie Schularbeiten machen, dankenswerter Weise aber mit hübschen Hollywoodschauspielerinnen. Am Ende eines dieser Filme sprang eine blonde Frau aus einer amerikanischen Karosse und rannte in den dunklen Schlund eines amerikanischen Waldes, und Vladimir, der daheim zusah, verspürte den starken Drang, ihr hinterherzurennen.
»Wer ist das?«, fragte er seinen Bruder, der alles wusste.
»Wieso?«, sagte Misha lachend. »Gefällt sie dir?«
Nööööööööö.
Ihr Name sei Mariel Hemingway, erklärte Misha. Die Enkelin eines berühmten amerikanischen Schriftstellers.
Vladimir liebte Jessica, Marina, Olga (na ja, die nicht mehr so), Tonja, Elena, Swetlana, die namenlose Lehrerin und Anastasia – aber er liebte sie alle auf rein asexuelle Weise. Er wollte in ihrer Nähe sein, für sie Lilien pflücken, sie durch die Milchglasscheibe seiner Wohnungstür anstarren, aber nicht küssen. Wenn’s hochkam, wollte er jemand sein, der früher mal Frauen geküsst hatte, der, was das Knutschen betraf, auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken und deshalb mit dem Thema unbefangen umgehen konnte. Aber Mariel Hemingway, diese amerikanische Blondine? Mit der wollte Vladimir Sachen machen. Er wollte mit den Daumen über ihre dicken, dunklen Augenbrauen fahren.
A merika! Misha und Vladimir nahmen ein Taxi vom JFK zu ihrer kleinen Einzimmerwohnung in Manhattan. The Big Apple! Die Stadt, die niemals schläft! Innerhalb weniger Wochen hatte Misha Vladimir in einer nahe gelegenen öffentlichen Schule angemeldet. Hatte ihm Stifte, Mappen und Drei-Fächer-Blöcke für seinen ersten Schultag in der sechsten Klasse gekauft. Aber diese amerikanische Schule entsprach nicht dem, was Vladimir sich vorgestellt hatte. Mit ihrem riesigen asphaltierten Hof, dem Glockenturm, dem hohen Zaun, dem uniformierten Wachpersonal, den Metalldetektoren, den Schweigebereichen, dem Cafeteria-Fraß, dem ständigen Aufstellen in Reih und Glied, den verbindlichen Sporteinheiten und der unterschwelligen explosiven Spannung kam ihm die Schule weniger wie eine aufgeklärte Bildungsinstitution denn wie eine sowjetische Strafkolonie vor. Am Morgen seines ersten Tages presste ein Mädchen, das doppelt so groß war wie Vladimir, ihn gegen die Wand des Klassenzimmers und packte ihn durch die Hose an die Eier. Am Nachmittag beobachtete er, wie einer aus der Achten einem Sechstklässler eine Schere in den Schädel trieb, wobei er seine Brotdose als Hammer verwendete. Vladimir kam mit klappernden Zähnen nach Hause.
Misha beschloss, ihn auf eine katholische Schule zu schicken. Sie entschieden sich für eine in Queens, wo die Preise niedriger waren – dank seiner Beziehungen verdiente Misha zwar ordentlich, aber für Manhattaner Schulgeld reichte es noch nicht. Außerdem, überlegte Mischa, gab es in Queens vielleicht weniger Schwarze und mehr Migranten, und an einer Schule mit hohem Migrantenanteil würde eine junge russische Bohnenstange mit leidlichen (wenn auch sich rasch verbessernden) Englischkenntnissen eher akzeptiert. Und tatsächlich waren die Lehrer netter und Mitschüler freundlicher, und Vladimirs Manhattaner Adresse verlieh ihm ein gewisses Prestige, aber es gab da einen Haken, ein Problem, das fast so schlimm war wie eine Stahlschere, die sich einem in den Schädel bohrt: Es war eine reine Jungenschule.
Sie rochen wie er, nach Schweiß, nach Füßen, nach dürftig deodorierten Achselhöhlen. In ihren Nacken verlief kein sanfter Pfad blonder Härchen. Manche hatten nicht einmal einen Nacken. Während des Unterrichts starrte Vladimir an die Tafel.
Beim Mittagessen ließ er den Namen Mariel Hemingway fallen, aber seine neuen Freunde schauten ihn an, als wäre er ein Außerirdischer aus dem interstellaren
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