Die Probe (German Edition)
Schreibtisch und leerte die halbe Flasche lauwarmes Mineralwasser, die er dort offenbar stehen gelassen hatte, in einem gierigen Zug. Erst als er unter der Dusche stand, das Wasser abwechselnd kalt und heiß über seine müden Glieder prasselte, kamen die Erinnerungsfetzen allmählich zurück. Dass er hier war und überhaupt noch lebte, hatte er unwahrscheinlichem Glück und seiner leistungsstarken Taucherlampe zu verdanken. Teils schwimmend, teils mühsam durch den nächtlichen Dschungel stolpernd hatte er schließlich völlig erschöpft und zerschunden den Hauptarm des Rio Madeira erreicht. Dann endlich, nach Stunden verzweifelten Wartens, Motorengeräusch. Seine schwachen Rufe verhallten ungehört. Das Boot wäre achtlos an ihm vorübergefahren, hätte er nicht in letzter Sekunde mit seiner Lampe auf sich aufmerksam gemacht: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, immer und immer wieder. Es war eine Patrouille der IBAMA, einer Sondereinheit der brasilianischen Umweltschutz-Behörde, die Jagd auf wilde Holzfäller machte. Unter größter Anstrengung gelang es Charlie nach mühsamen Verhandlungen, die misstrauischen Beamten von seiner Geschichte zu überzeugen. Nun lag Ryans Leichnam in der Gerichtsmedizin im Keller des Polizeihauptquartiers an der Praça da Policia.
Er fragte sich, was ein Pathologe bei einer Leiche in diesem Zustand noch finden konnte, aber es blieb nichts anderes übrig, als auf seinen Bericht zu warten. Er erinnerte sich nur undeutlich, was geschehen war, als die Leute der IBAMA ihn gestern im Hotel abgeliefert hatten, und im Grunde genommen wollte er es auch nicht wissen. Jedenfalls war reichlich Cachaca im Spiel. Wahrscheinlich hatte ihn der zerknirschte Concierge vorsorglich abgefüllt, um sein Gewissen zu beruhigen. Für ein paar Stunden traumlosen Schlafs hatte es jedenfalls gereicht, wenn auch mit erheblichen Nebenwirkungen.
Am meisten ärgerte ihn, dass Eduardo, oder was auch immer sein richtiger Name war, Ryans Tasche mit den kostbaren Dokumenten gestohlen hatte. Die Fahndung nach den beiden Banditen lief zwar, aber er machte sich keine Illusionen. Wenn sie nicht strohdumm waren, hatten sie sich längst aus dem Staub gemacht. Er war überzeugt, dass der nette Senhor De Souza dahinter steckte. Der musste alles Interesse daran haben, dass Ryans Erkenntnisse unter keinen Umständen veröffentlicht wurden. Und jetzt sah es ganz danach aus, dass seine Lakaien das geschafft hatten. Verdammt, das kann ich nicht zulassen , dachte Charlie wütend. Er brauchte jetzt einen starken Kaffee.
Während er lustlos an einem Melonenschnitz kaute, erinnerte er sich plötzlich wieder an eines der Papiere, die er in Ryans Tasche gefunden hatte. Eine Quittung seines Hotels, das auch den Namen einer Frucht trug: Mango. Mango Guesthouse, das musste es sein. Wie elektrisiert sprang er auf, ließ sich ein Taxi rufen und machte sich auf den Weg. Er hatte immerhin eine Spur.
Das Hotel war eine gemütliche Pousada, ein Gasthaus aus mehreren niedrigen Holzhäusern, eine Art Dschungel-Lodge mitten in der Stadt. Die Dame am Empfang brauchte nicht lange zu suchen, als er Ryans Namen nannte.
»Sim, Senhor. Ich erinnere mich gut an Senhor Hogan. Er hat ausgecheckt und Gepäck hier deponiert, aber es ist nie abgeholt worden. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.« Charlie zögerte keinen Augenblick mit der Antwort:
»Não, Senhora. Er ist nur leider verhindert und hat mich gebeten, seine Sachen abzuholen.« Er war beinahe enttäuscht, als sie ihm nur einen kleinen, schäbigen Plastikkoffer überreichte. »Muito obrigada, Senhora.« Mit einem großzügigen Trinkgeld verabschiedete er sich manierlich. Während der Fahrt zurück ins Hotel saß er wie auf Nadeln. Es kostete ihn unerhörte Überwindung, das Gepäckstück nicht sofort zu öffnen. Als der Koffer endlich vor ihm auf seinem Bett lag, betrachtete er ihn erst einige Zeit nachdenklich, als wäre er im Begriff, Ryans Vermächtnis zu enthüllen. Dann drückte er auf die Sperre und der Verschluss sprang auf. Typisch Ryan, nicht verschlossen. Ein Sack schmutziger Kleider, einige unbenutzte Hemden und Shorts, ein paar Schuhe, Toilettenzeug, auf den ersten Blick nichts von Bedeutung. Charlies Zuversicht schmolz dahin. Enttäuscht setzte er sich und dachte nach. Nicht auszuschließen, dass sich alle wichtigen Dokumente in der gestohlenen Tasche befanden, aber er gab nicht so schnell auf. Entschlossen kippte er den Inhalt aufs Bett und untersuchte den leeren Koffer.
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