Die Probe (German Edition)
»Ich bin ein Trottel«, brummte er plötzlich, als er den halb verdeckten Reißverschluss im Deckel bemerkte. Er zog ihn auf und auf seinem Gesicht erschien ein breites Grinsen. Na also! Vor ihm lagen eine rote Sichtmappe mit der unübersehbaren Aufschrift ›SAITOU‹ und ein kleines schwarzes Adressbuch. Fieberhaft las er die Papiere, und je länger er sich damit beschäftigte, desto deutlicher wurde das Bild eines skrupellosen Geschäftsgebarens von Saitous Mining-Tochter. Die teilweise fast unleserlichen Handnotizen enthielten zusammen mit der Sammlung von Augenzeugenberichten, Zeitungsausschnitten und Fotos Hinweise auf mehrere vertuschte Skandale. Aber zu seiner großen Enttäuschung blieben die eindeutigen Laborergebnisse, die er in Ryans Tasche gefunden hatte, verschwunden. Die überwiegende Zahl der Dokumente in der roten Mappe handelte von einer Baustelle am anderen Ende der Welt, in Australien. Enttäuscht legte er das Dossier zur Seite. Er musste die Ergebnisse dieser Laboruntersuchungen wiederbeschaffen. Gedankenverloren blätterte er das Adressbuch durch. Eine Ansichtskarte fiel heraus, mit dem Bild einer einsamen Bucht, die in eine Grotte mündete. ›Saluti di Capri‹ stand auf der Rückseite, und in zierlicher Handschrift:
Lieber Ryan,
ich genieße die paar Ferientage an der Sonne vor der großen Reise.
Machs gut und pass auf Dich auf,
Lauren
Lauren! Er ließ die Karte fallen wie eine heiße Kartoffel. Die Erinnerung an sie schmerzte noch immer unerträglich. Er wusste nicht, was aus ihr geworden war, wo sie sich aufhielt und überließ es gerne seinem Büro, das herauszufinden, ihr die Nachricht über den Tod ihres Gatten zu überbringen. Er wollte weiterblättern im schwarzen Büchlein, den Buchstaben L überspringen, doch beim ersten Eintrag auf dieser Seite erhöhte sich sein Puls schlagartig. Das Wort Laboratório ließ ihn aufspringen. Das Labor! Ryan hatte Adresse und Telefonnummer des Labors in Manaus säuberlich eingetragen, er brauchte nur noch hinzugehen. Wenn die Leute ihr Geschäft ernsthaft betrieben, würden sie auch ein anständiges Archiv führen. Der Tag, an dem er lieber nicht aufgestanden wäre, könnte doch noch ein guter Tag werden. Er schaute auf die Uhr: 15 Uhr. Genügend Zeit, das Labor aufzusuchen, bevor er abends Osaka anrufen musste. Es würde ein längeres Gespräch werden mit Daisy.
Osaka
Mai Yoshida war hier zu Hause, das Labor im fünften Stock des Saitou Hauptsitzes der Mittelpunkt seines Lebens. Seit seiner Studienzeit, die schon unendlich lange zurücklag, hatte er hier als Chemiker gearbeitet. Er liebte den ruhigen, gleichmäßigen Ablauf seiner Tage, die Ästhetik der Welt der Kristalle und Moleküle, die schlichte Eleganz seines kleinen Eckbüros, wo alles seine Ordnung hatte. Konzentriert und mit ernster Miene beugte er sich über das Diagramm, das die elektromagnetischen Eigenschaften des Materials ihrer letzten Versuchsreihe zusammenfasste. Er konnte nicht anders, als die geniale Arbeit der Programmierer zu bewundern, die diese grafische Darstellung geschaffen hatten. Lichtdurchlässigkeit, Leitfähigkeit, Magnetisierung bei verschiedenen Temperaturen, Belichtungen und Schichtdicken wurden hier auf einer einzigen Seite übersichtlich dargestellt. Diese kunstvollen Bilder ersparten ihm mühsames Suchen in langen Zahlenreihen. Sofort erkannte man die interessanten Kombinationen und konnte sich auf die detaillierte Auswertung dieser wenigen Bereiche konzentrieren. Die Grafik brachte Ordnung in die chaotische Vielfalt der Natur.
Es wurde Zeit für seinen Tee. Er prägte sich die wichtigsten Resultate nochmals ein, erhob sich und ging an der langen Reihe der Labortische vorbei zur Kochnische. Dort bereitete er seinen Tee stets frisch zu, und dort trank er ihn auch in kleinen Schlucken. Niemals hätte er die Tasse, oder gar eine Schüssel mit Essen an seinen Arbeitsplatz mitgenommen, wie das fast alle seiner Kollegen taten. Das hätte die Symmetrie in seinem Universum empfindlich gestört.
»Na, Mai, noch keine Frühlingsgefühle?«, begrüßte ihn sein Schützling Tommy mit anzüglichem Grinsen. Thomas Fontaine war auf ein Stipendium in Osaka und gehörte seit einem halben Jahr auch zum Team von Dr. Griffith. Seine Chefin hatte Mai die ehrenvolle Aufgabe zugeteilt, den ungestümen jungen Wissenschaftler, sozusagen als Pate, unter seine Fittiche zu nehmen. Der smarte Tommy, der bisher nur die Hörsäle und Universitätslabors gesehen hatte, sollte
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