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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Japanerin war. Daisy Hayman stammte aus Dorset im Südwesten Englands, und sie war als Junior Inspector im Auftrag der UNEP auf dem Weg zum Hauptsitz des mächtigen Saitou-Konzerns. Sie begann sich Sorgen zu machen um ihren Chef, der nicht mehr erreichbar war und keine Combox-Meldung beantwortete. Nicht, dass sie Charlies moralische Unterstützung für ihren Job benötigte, dazu war sie viel zu selbstsicher, aber sie wusste gern, was Sache war.
    Geduldig ließ sie sich vom Strom der Passagiere in den Wagen schieben. Der Zug war gut besetzt, wie sie nicht anders erwartet hatte, und doch herrschte kein unerträgliches Gedränge, wie sie es während der zwei Jahre ihres Studiums in Tokio jeden Morgen erlebt hatte. Kaum jemand sprach, und wenn, dann sehr leise. Jede und jeder schien in seiner eigenen Welt vor sich hin zu dösen oder beugte sich stumm über das Keitai, sein Mobiltelefon, ohne das in diesem Land nichts mehr ging. Seit ihrer Zeit in Tokio hatte es sich vom einfachen Kommunikationsmittel zum universellen Zahlungsmittel, zum Musikspieler, zum Fernseher, zum interaktiven Buch gewandelt. Sie sah kaum eine junge Frau oder einen jungen Burschen, die dem kleinen blauen Bildschirm nicht ihre volle Aufmerksamkeit widmeten. Die kleinen Geräte begannen bereits, die traditionellen Umgangsformen umzukrempeln. Die Tage der artigen Verbeugungen und Höflichkeitsfloskeln waren offenbar auch gezählt, wie sie auf der Taxifahrt zum Hotel festgestellt hatte. Beim Aussteigen hielt der Fahrgast nur noch sein Keitai an den Scanner, es brauchte keine Worte mehr, kein freundliches Lächeln.
    Honmachi. Sie musste in die Midosuji Linie umsteigen. Der Hauptsitz von Saitou befand sich in Yodoyabashi, eine Station weiter nördlich. Kaum war sie eingestiegen, fuhr der Zug an und hielt gleich wieder. Sie verfehlte den Handgriff, an dem sie sich hätte festhalte können und prallte hart gegen eine Sitzbank. Beinahe hätte sie sich auf den Schoß der jungen Frau gesetzt, die dort in ihrem Buch las.
    »Gomen nasai« - »Entschuldigen Sie«
    »Daijobu desu« - »Kein Problem«, antwortete die Frau automatisch. Erst jetzt bemerkte Daisy ihren blonden Haarschopf, der zu einem dicken Zopf geflochten war. Eine Ausländerin, wie sie, ein zierliches Wesen mit großen Rehaugen, sinnlichem Mund und zarten Händen. Ein betörender Anblick, eine Erscheinung, von der sie sich nicht abwenden konnte. Die Frau lächelte verlegen und vertiefte sich rasch wieder in ihr Buch. Nur einen kurzen Augenblick hatte Daisy das Cover gesehen, doch der hatte genügt, um die Zeichnung mit den beiden ungleichen Mädchen zu erkennen. Es war die Geschichte von Saki und Minako, besten Freundinnen, deren enge Beziehung an ihren Gefühlen füreinander zu scheitern droht, ein kunstvoll illustrierter Manga voller großer Gefühle und Konflikte. Sie hatte dieses Buch von Erica Sakurazawa in der englischen Version gelesen, und sie hätte zu gerne gewusst, mit welcher der beiden Figuren diese faszinierende Frau sich wohl identifizierte.
    Der Zug hielt an, Yodoyabashi. Die Frau stand auf, stieg aus, und sie folgte ihr. Im Gewühl der Reisenden verlor sie sie schnell aus den Augen. Nachdenklich folgte sie dem Midosuji-Boulevard bis zur Seitenstrasse, in der Saitou einen ganzen Block besetzte. Sie schaute auf die Uhr: zehn vor neun. Gut, sie würde rechtzeitig eintreffen. Es war wichtig für ihren heiklen Auftrag, die Leute nicht durch eine unhöfliche Verspätung zu kränken. Fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin meldete sie sich beim Empfang. Sie reichte dem uniformierten Pförtner ihre Visitenkarte, mit beiden Händen, wie es sich gehörte.
    »Konnichiwa, ich werde von Dr. Griffith erwartet.« Kurze Zeit später führte sie eine Empfangsdame mit weißen Handschuhen in ein ganz im unterkühlten, traditionellen Stil eingerichtetes Zimmer: kostbares Edelholz, auserlesenes Ikebana Arrangement, niedriges Teetischchen und glücklicherweise bequeme Ledersessel als Konzession an westliche Besucher. Die Tür öffnete sich. Eine schwarz gekleidete Bedienstete huschte mit tiefer Verbeugung herein und stellte wortlos eine Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Kaum hatte sie sich wieder zurückgezogen, trat die Person ein, die sie interviewen sollte. Sie erhob sich und wäre vor freudiger Überraschung beinahe wieder in den Sessel gesunken. Ohne zu wissen weshalb, hatte sie einen männlichen Gesprächspartner erwartet, aber nun stand die Erscheinung aus der Metro in ihrer ganzen

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