Die Propeller-Insel
eingeholt haben.
Kein Zweifel, Standard-Island ist in der Nacht von einer ganzen Raubthierbande überfallen worden. Der Tanz-und Anstandslehrer, der gerade heute zeitiger als gewöhnlich ausgegangen ist, wagt sich gar nicht mehr nach seiner Behausung zurück, sondern hat sich in das Casino geflüchtet, woraus ihn keine Macht der Erde zu vertreiben vermöchte.
»Ach, geht doch! Eure Löwen und Tiger sind Enten und Eure Alligatoren sind unschuldige Maifischchen!« ruft Pinchinat spottend.
Er mußte sich jedoch bald eines bessern belehren lassen. Vom Stadthause ist angeordnet worden, die Gitterthore der Stadt zu schließen und den Eingang zu den zwei Häfen und den Zollstätten des Ufers zu verrammeln. Gleichzeitig wird der Trambahnverkehr eingestellt und streng jedes Betreten des Parks und der Felder untersagt, ehe nicht die Gefahren dieses unerklärlichen Ueberfalles beseitigt sind.
Gerade als die Erste Avenue am Square des Observatoriums abgesperrt werden sollte, kam in kaum fünfzig Schritt Entfernung ein Tigerpaar mit glühendem Auge und blutigem Rachen dahergejagt. Nur noch wenige Secunden, und die wüthenden Thiere hätten das Gitterthor erreicht gehabt.
An der Seite des Stadthauses hat dieselbe Maßregel ausgeführt werden können, und Milliard-City hat hiernach für sich nichts mehr zu fürchten.
Das Ganze war einmal ein fetter Braten für das »Starboard-Chronicle« und den »New-Herald«, wie für die andern Journale Standard-Islands.
Das Entsetzen war jetzt auch auf dem Gipfelpunkte. Hôtels und Häuser sind verbarricadiert, in den Handelsvierteln alle Schaufenster geschlossen, alle Thüren verriegelt. An den Fenstern der obern Stockwerke zeigen sich erschreckte Gesichter. In den Straßen sieht man nichts mehr, als einzelne Rotten der unter dem Befehle des Colonels Stewart stehenden Miliz und Abtheilungen von Polizisten unter ihren Officieren.
Cyrus Bikerstaff und seine Adjuncten Barthelemy Ruge und Hubley Harcourt, die sofort zusammengetreten sind, bleiben gleich im Sitzungssaale in Permanenz. Durch die Telephone der beiden Häfen, der Batterien und der Uferwachposten empfangen sie die beunruhigendsten Nachrichten. Wilde Thiere hat man überall gesehen… mindestens Hunderte, sagen einige Telegramme – wo die Furcht wohl eine Null zuviel angehängt hat…. Eines steht aber fest: daß eine Anzahl Löwen, Tiger, Panther und Kaimans jetzt auf den Feldern hausen.
Was ist nun hier vorgegangen?… Hat sich eine Menagerie nach Zerbrechung der Käfige auf Standard-Island geflüchtet?… Woher sollte die Menagerie gekommen sein?… Etwa von dem gestern beobachteten Dampfer?…
Sollte dieser in der Nacht hier angelaufen sein?… Oder haben die Thiere, die sich durch Schwimmen retteten, an der abgeflachten Stelle der Mündung des Serpentineflusses ans Ufer gelangen können?… Ist jenes Fahrzeug vielleicht auf der Stelle versanken?… So weit man sehen kann und so weit das Fernrohr des Commodore Simcoë trägt, treiben keine Trümmer auf dem Meere, und Standard-Island liegt doch noch fast an derselben Stelle wie am Tage vorher!… Und wenn der Dampfer untergegangen war, hätte sich seine Mannschaft nicht nach Standard-Island retten können, da das doch den Raubthieren gelungen war?
Das Telephon des Stadthauses fragt hierüber bei den verschiednen Wachposten an und erhält die Antwort, daß von einer Collision oder einem Schiffbruche keine Rede sein könne. Das hätte, trotz der Dunkelheit, ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Von allen Vermuthungen erscheint diese am wenigsten annehmbar.
»Ein Geheimniß… ein Geheimniß!«… ruft Yvernes wiederholt.
Seine Kameraden und er sitzen zusammen im Casino, wo Athanase Dorémus mit ihnen das Frühstück theilt und, wenn nöthig, auch zum zweiten Frühstück und zur Hauptmahlzeit um sechs Uhr abends dableiben wird.
»Meiner Treu, antwortet Pinchinat, von seinem Chocoladejournal naschend, laßt die Sache jetzt ruhen! Wir wollen zunächst essen, Herr Dorémus, in Erwartung, später selbst aufgefressen zu werden…
– Nun, wer weiß? fällt Sebastian Zorn ein. Doch ob von Löwen, Tigern oder von Cannibalen…
– Ich ziehe die Cannibalen vor! ruft Seine Hoheit. Jeder nach seinem Geschmack, nicht wahr?«
Der unverbesserliche Windbeutel lacht hell auf, dem Tanz-und Anstandslehrer ist es aber gar nicht wie lachen, und das vom Entsetzen gelähmte Milliard-City hat dazu gewiß auch keine Lust.
Um acht Uhr morgens ist der vom Gouverneur zusammengerufene
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