Die Prophetin vom Rhein
Noch bleibt uns also etwas Zeit. Lasst sie uns zum Besten nutzen!«
Er war erst weiter zum Reden zu bewegen, als sie schließlich zu zweit im Äbtissinnenhaus saßen, während die anderen Männer in der Klosterküche mit einem Imbiss gestärkt wurden. Die Magistra hatte den Kamin im Besucherzimmer schüren lassen, eine Seltenheit in all den Jahren auf dem kargen Berg, doch heute fror sie trotzdem jämmerlich, nicht nur wegen des Windes, der heulend um die Mauern strich. Es ging etwas von ihrem Besucher aus, das sie frösteln machte, eine Kälte, die seinem Innersten zu entströmen schien und sich wie ein eisiger Hauch auf alles legte, das lebte und atmete.
»Nun?«, fragte Hildegard, als er ausgiebig von dem dunklen Holunderwein getrunken hatte, den Clementia eigens auf dem Herd erwärmt hatte. Das honigsüße Dinkelgebäck, offenbar zu schlicht für seinen Geschmack, ließ er unberührt.
»Ihr wisst, weshalb Arnold von Selenhofen bereits im vergangenen Jahr zum Heiligen Vater zitiert wurde?«, konterte er mit einer Gegenfrage.
Ihre Miene versteinerte.
Wollte er sie auf die Probe stellen, um herauszufinden, wie viel Hugo ihr von dem preisgab, was unter den Klerikern im Domkapitel verhandelt wurde? Jetzt bereute sie, dass sie vorher so unüberlegt mit ihrer Vertrautheit herausgeplatzt war.
»Unser Dasein im Kloster ist gottesfürchtig und weltabgewandt«, erwiderte sie nach einer kleinen Pause. »Die Anbetung Christi nach den Regeln des heiligen Benedikt - dafür leben und sterben wir.«
Erstaunlicherweise schien ihm ihre Antwort zu gefallen. »So klar und weise spricht nur die Prophetin vom Rhein«, rief er. »Zu Recht tragt Ihr diesen ruhmreichen Namen. Und ginge es nach mir, so hättet Ihr schon längst die Unabhängigkeit erlangt, nach der Ihr so sehr dürstet.«
Was bildete er sich ein? Der Zwist mit Kuno, dem Abt des Disibodenberg, betraf nur sie und den Erzbischof von Mainz. Niemand war je mit billigen Schmeicheleien bei ihr weitergekommen. Sie brauchte keinen ehrgeizigen Aufsteiger wie diesen Dudo, um zu wissen, wer sie war. Jahre des Gebets und der Demut hatten sie es gelehrt. Dieses allzu durchsichtige Gelaber machte sie nur wütend. Hildegard senkte den Kopf, um ihre rasch aufflammenden Gefühle zu verbergen, was ihr Gegenüber offenbar missverstand und im Gegenteil als Aufforderung auffasste, nur umso eifriger weiterzureden.
»Tiefe Sorge ist es, die mich zu Euch auf den Rupertsberg getrieben hat«, fuhr er fort. »Sorge um das Kloster, die Stadt, die Diözese - und das ganze Reich.«
Jetzt besaß er ihre gesamte Aufmerksamkeit. Hildegards helle Augen musterten ihn prüfend.
»Ihr wisst von den Auseinandersetzungen des Erzbischofs mit dem Grafen von Stahleck, Eurem alten Gönner, der dieses Kloster mit großzügigen Schenkungen bedacht hat«, sagte Dudo, was Hildegard lediglich mit einem knappen Nicken kommentierte. »Der Kaiser hat die beiden Kontrahenten mit der Harmschar bestraft, der Heilige Vater, bis zu dessen Stuhl die Vergehen gedrungen waren, hat anschließend sogar den Erzbischof von Trier mit weiteren Nachuntersuchungen beauftragt. Für den Augenblick scheint alles befriedet. Doch was wird werden, wenn Arnold von Selenhofen wieder in der Stadt weilt?«
»Sagt Ihr es mir«, erwiderte Hildegard ohne die Spur
eines Lächelns. »Deshalb seid Ihr doch mit Eurer kleinen Schar hierhergekommen.«
»Alles Männer, die so denken wie ich«, sagte er. »Und das ist erst der Anfang. Bald schon werden es mehr sein, verlasst Euch darauf!«
Dudo ließ einige seiner Knöchel knacken, ein lautes, widerliches Geräusch, das ihr durch alle Glieder fuhr.
»Ein Stadtherr, der mehr und mehr die Kontrolle über seine Bürger verliert«, fuhr er fort, »darum geht es doch vor allem. Viele Zeichen sprechen dafür, dass es bald schon neuen, womöglich noch heftigeren Aufruhr in Mainz geben wird. Das mächtige Geschlecht der Meingoten ist nicht länger bereit, Arnolds Zurücksetzungen zu ertragen - und sie sind nicht die Einzigen. In grober Willkür hat er wichtige Posten mit seinen Anhängern besetzt, ohne auf deren Eignung zu achten, und dabei andere Kandidaten schmählich übergangen. Schon ertönt der Ruf nach einem neuen Erzbischof, bislang verhalten noch und eher im Geheimen. Was aber, wenn er bald so laut erschallen wird, dass es auf den Plätzen und Gassen von Mainz zu Blutvergießen kommt?«
Eine ganze Weile blieb es still. Das Holz zischte im Kamin. Es war beileibe nicht so trocken, wie Hildegard
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