Die Prophetin vom Rhein
es bevorzugte. Benigna, die sonst stets für das Brennmaterial sorgte, hatte einige Tage mit Fieber daniedergelegen. Höchste Zeit, dass die Infirmarin wieder auf die Beine kam, um sich um all das zu kümmern. Eine Woge der Zuneigung für alle ihr Anempfohlenen erfasste die Magistra, so heftig und unbedingt, dass sie beinahe über sich selbst erschrak. Schon als Kind hatte sie erfahren, wie leidenschaftlich sie lieben und hassen konnte. Aber sie hatte gehofft, dass die stillen Klosterjahre diese Gefühlsstürme nach und nach besänftigen würden.
Dann aber wurde sie wieder ruhiger. Mochte ihr Herz noch so heiß geblieben sein, ihre innersten Empfindungen gingen nur sie selbst etwas an - und nicht diesen nervösen Emporkömmling, der vor ihr auf seinem Stuhl herumzappelte und auf einmal nicht mehr wusste, wohin mit seinen dünnen Armen und Beinen.
»Stets haben wir den Geschmack des Paradiesapfels im Mund«, erwiderte sie schließlich und genoss das Erstaunen auf Dudos Fuchsgesicht, das ihre Worte auslösten. »Wieso sind die Geschöpfe des Guten in einer guten Schöpfung überhaupt verwundbar? Weil die Sünde uns Menschen mit starker Macht aus dem leuchtenden Land vertrieben hat.«
»Wie wahr Ihr sprecht«, antwortete Dudo mit gezwungener Höflichkeit, obwohl sein mürrischer Gesichtsausdruck etwas ganz anderes sagte. »Wenngleich ich nicht ganz verstehe, was diese Antwort speziell mit Mainz zu tun hat, einer Stadt, in der sich jetzt auch noch eine ruchlose Gruppe Verlorener eingenistet hat, die den Teufel anbeten. Ihre Zahl wächst ständig, doch Arnold von Selenhofen scheint nicht willens oder in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten. Sie leugnen die Sakramente, lehnen das Kreuz ab, erkennen die Autorität des Papstes nicht an, lassen sich lieber töten, als zu schwören oder einen Lehnseid zu leisten. Nach außen hin fromm und keusch, treiben sie Unzucht im Verborgenen. Ihr schlimmstes Vergehen aber ist in meinen Augen, dass sie …«
»Das reicht!« Hildegard hatte sich erhoben und dem Feuer zugewandt, als könne sie den Anblick des Kanonikers nicht länger ertragen. »Ich will von alledem nichts mehr hören.«
»Aber das solltet Ihr, hochwürdige Mutter!« Nur mühsam gelang es ihm, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken.
»Denn diese Kirche der Liebe, wie sie sich frevlerisch nennt, schreckt vor nichts zurück, um neue Anhänger zu gewinnen. Nicht einmal Klostermauern reichen aus, um sie davon abzuhalten, wie Ihr ja bereits selbst leidvoll erfahren musstet.«
Langsam drehte sie sich zu ihm um.
Er wusste von Magota und ihrem Verrat! Wer konnte ihm davon berichtet haben? Gab es eine Schwester im Konvent, die für ihn spionierte und den heimlichen Zuträger spielte?
»Das Gewebe der Welt hat in letzter Zeit einige unschöne Risse abbekommen, die sich jedoch mit einigem Geschick wieder stopfen lassen.« Dudo kam während seiner Ausführungen immer mehr in Fahrt. »Mir erscheint es nicht sonderlich schwierig, jenen das Handwerk zu legen, die sich gute Christen nennen und mit ihrer Kirche der Liebe protzen. Ein paar Ermittlungen, um die Rädelsführer zu fassen, ein straff geführter Prozess, der ihre Schuld lückenlos beweist, schließlich das reinigende Feuer, um alle schändlichen Ketzerlehren in Rauch aufgehen zu lassen - und der hässliche Spuk wäre für immer vorbei.«
Mit seinen schlanken Fingern rieb er sich nachdenklich das spitze Kinn.
»In letzter Zeit soll sich ihnen sogar eine junge Hebamme angeschlossen haben. Eine Wehmutter, deren Aufgabe es doch wäre, Kindlein ins Leben zu helfen, anstatt sich verderbten Lüsten hinzugeben und an Verbrechen teilzunehmen, vor denen uns graust. Schon erstaunlich, wohin die teuflische Verblendung Menschen manchmal führen kann!«
»Was wollt Ihr?« Hildegards Stimme war plötzlich nicht mehr ganz sicher.
»Eure Fürsprache, Abatissa! Alle Welt schwärmt von
der Spitze Eurer Feder, von der Trefflichkeit Eurer Bilder und der Schlüssigkeit der Vergleiche, die Ihr aufführt. Ein Brief an den Kaiser, ein Schreiben an den Papst, in dem Ihr meine Fähigkeiten empfehlt, ganz nach Eurem Gutdünken. Mainz braucht einen neuen Stadtherrn, jemanden, der in der Lage ist, die vielfältigen Probleme zu lösen, mit denen Stadt und Bistum zu kämpfen haben.«
»Und der wollt Ihr sein?«
Dudos Lippen waren fest aufeinandergepresst. Die Augen schimmerten glasig, als schauten sie in weite Fernen.
»Ja, ich wäre bereit, mich dieser großen Aufgabe zu stellen. Doch
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