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Die Prophetin vom Rhein

Titel: Die Prophetin vom Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Stunde Donata Dienst tat. Einmal noch blieb die große Frau stehen, drehte sich um und erhob in einer Drohgebärde, die freilich eher kümmerlich als angsteinflößend wirkte, ihre Faust.
    Galt das Theresa? Hatte sie womöglich das Mädchen am Fenster entdeckt?
    Unwillkürlich wich Theresa zurück. So konnte sie den Karren nicht mehr sehen, der ein Stück unterhalb der Klostermauer am Fluss auf Magota wartete.
    »Nach Bingen«, sagte Magota zu dem bulligen Fuhrmann, der ihn lenkte. »Zum Haus des Flamen in der Enkersgasse. Und beeil dich gefälligst! Dort erwartet man mich bereits.«

Drei
    BINGEN - SOMMER 1154
    Jetzt war die Zeit der Rosen gekommen. Doch nicht nur sie standen in herrlichster Blüte, sondern mit ihnen waren auch die Knospen des Lavendels, der Margeriten, Madonnenlilien und Lupinen aufgegangen. Der Duft, den eine leichte Brise vom Klostergarten herüber ins Scriptorium trug, brachte Theresa immer wieder dazu, den Griffel sinken zu lassen. Inzwischen stellte sie sich beim Schreiben so geschickt an, dass man ihr gelegentlich sogar die Feder anvertrauen konnte. Auch ihr Latein hatte sich verbessert, wenngleich Praktisches ihrem Wesen nach wie vor mehr entsprach. So hatte sie unter Hedwigs kundiger Anleitung gelernt, aus der Rinde des Schlehdornstrauches Tinte zu gewinnen, ein aufwendiges Verfahren, das oft nur geringe Erträge zeitigte und daher bei vielen Nonnen nicht gerade beliebt war.
    Ein warmer, schier endloser Sommer lag über dem Land, auch wenn es viel zu trocken war, was die Schneckenplage zum Glück in Grenzen hielt. Dafür bereitete das Ausstehen des Regens Schwester Benigna Sorgen, die über ihre Pflanzen und Kräuter ebenso unermüdlich wachte wie über die Kranken, die sich in ihrer Obhut befanden. Kaum waren sie versorgt, kam der Garten an die Reihe, der üppig gewässert werden musste. Eine Arbeit, vor der Theresa sich niemals drückte, weil sie es liebte, mit bloßen Füßen Beete und Stauden zu gießen, während hoch über ihr Amsel, Star und Wiedehopf trällerten.

    Weit weniger angenehm war der Umgang mit stinkender Brennnesseljauche, doch die kluge Infirmarin hatte es verstanden, Theresa sogar diese ungeliebte Tätigkeit halbwegs schmackhaft zu machen, weil die Flüssigkeit allen Gemüse-, Obst- und Zierpflanzen Kraft verlieh und zum Angießen diverser Setzlinge unverzichtbar war. Jetzt war es wichtig, den Boden im Gemüsegarten zu bedecken, mit Pflanzenabfällen oder anderem Mulch, um die Blätter zu kräftigen und ein zu frühes Abfallen der Frucht zu verhindern. Außerdem galt es, den Raupennestern der Gespinstmotte den Kampf anzusagen, die sich vor allem in den Apfelbäumen einnisten wollte und gegen die ein starker Rainfarnguss das beste Mittel war.
    Viele Kräuter waren schon zur Ernte bereit: Salbei, Pimpernell, Minze, Wermut, Beifuß, Liebstöckel, Kresse und Schnittlauch, alles eben, was vor der Blüte geschnitten werden sollte. Als beste Zeit dafür galt der frühe Morgen eines sonnigen Tages. Dann wurde gleich nach dem Schneiden alles locker in Körbe gefüllt, oder man trocknete schonend, was nicht zum Frischverzehr gebraucht wurde. Die Kräuter wurden dabei gebündelt, in der Scheune aufgehängt oder auf sauberem Leinen ausgebreitet, um sie später in Holzschachteln oder Keramikgefäßen für die langen, dunklen Wintermonate zu lagern.
    Ach, der kalte, harte Winter - wie unendlich fern schien er allen gerade! Sie hatten von den Scriptoriumfenstern die Schweinsblasen entfernt, und die Sommerluft, die hereindrang, war lau wie eine zärtliche Umarmung. Da fiel es Theresa beinahe so schwer wie ganz zu Anfang, sich auf das Geschriebene zu konzentrieren, obwohl sie wusste, wie viel davon abhing.
    Seit Monaten schon arbeitete die Magistra an einem neuen Werk, einem umfangreichen Kompendium der Pflanzen-,
Tier- und Edelsteinwelt, das auch viele Rezepte gegen verschiedenste Krankheiten enthielt. Dieses Mal war es nicht das strahlende Licht, das der Prophetin vom Rhein die Worte eingab, die bei »Scivias - Wisse die Wege«, Hildegards erster großer Schrift, noch Richardis in klares, korrektes Latein verwandelt hatte, worauf Bruder Volmar das Ergebnis schließlich auf kostbarem Pergament festhielt. Jetzt bedurfte es mehrerer Mitarbeiter, um ein Ergebnis zu erzielen, das Hildegards hohen Ansprüchen gerecht wurde.
    Die kleine Gruppe war aufeinander eingeschworen und gut zusammengestellt: Neben der Magistra gehörten zu ihr Schwester Hedwig, die kluge Leiterin des Scriptoriums,

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