Die Prophetin vom Rhein
etwas Fremdes in ihrer Seele eingenistet. Etwas, das sie schwach und äußerst anfällig macht. Magota kommt mir oft vor wie eine Tür, die sich nicht mehr richtig schließen lässt. Da ist es für stürmische Winde und Regengüsse ein Kinderspiel, hineinzufahren und sie nach allen Richtungen zu beuteln.«
»Sie hat diese Zustände erst bekommen, als wir das Vaterunser
gebetet haben«, sagte Theresa. »Da erst wurde sie so seltsam. Zuvor hat sie ja den Mund nicht aufgemacht.«
»Das hast du beobachtet?« Nun besaß sie Benignas ganze Aufmerksamkeit.
Theresa nickte beklommen.
»Aber das ist doch nicht alles«, fuhr die Infirmarin fort.
»Da ist doch noch etwas, das dich bedrückt. Heraus mit dem, was du auf dem Herzen hast, mein Mädchen!«
Theresa wollte keine Verräterin sein, das war ihr deutlich anzumerken. Und doch schien etwas in ihr zu gären, das ihr die Worte förmlich auf die Zunge schob.
»In Bingen hat der Flame, von dem unsere Seide stammt, mit Magota auch das Vaterunser gebetet«, stieß Theresa schließlich hervor. »Aber eines war merkwürdig daran. Ich hab lediglich ihn beten gehört. Magota blieb die ganze Zeit über stumm.«
»Wie hat sie ihn denn angeredet? Kannst du dich daran auch noch erinnern?«
»›Werter Bruder in Gott.‹ Ja, das war es. Sie hat seine Schultern mit ihrem Gesicht berührt, das hab ich noch nie zuvor gesehen. Und loswerden wollte sie mich, so schnell wie möglich. Aber Willem, der hat mit alledem nichts zu schaffen . Das musst du wissen. Er ist ganz anders.«
»Wer ist Willem?«, fragte Benigna.
Theresa senkte den Blick. »Der Neffe des Flamen«, murmelte sie. »Er hat mich damals auf seinem Pferd zum Rupertsberg gebracht und war immer freundlich zu mir.«
»Was sonst hast du noch gehört? Die Wahrheit, Theresa!«
»Magota hat nur noch gesagt, sie würde die Kirche der Liebe niemals enttäuschen. Hast du eine Ahnung, was sie damit gemeint haben könnte?«
»Ich fürchte, ja.« So ernst und entschlossen hatte sie Benigna
noch nie zuvor gesehen. »Dabei dachte ich, es seien lediglich dumme Gerüchte. Aber ich habe mich offenbar getäuscht.«
Sie nahm das Mädchen bei der Hand. »Die Krankenwäsche wird nun Gunta übernehmen müssen. Wir beide gehen zur Magistra und berichten ihr, was du gesehen hast. Die hochwürdige Mutter muss erfahren, was in ihrem Kloster vor sich geht.«
»Jetzt?« Theresas Stimme war nur noch ein Wispern.
»Jetzt.« Benigna nickte ihr aufmunternd zu. »Denn was wir tun, geschieht zum Besten von uns allen.«
Inzwischen verfolgten die Kettenhemden Gero schon bis in den Schlaf. Seine Hände, mittlerweile mit dicker Hornhaut bedeckt und trotzdem an einigen Stellen noch immer durch Blasen und Schwielen entstellt, bewegten sich im Traum auf der dünnen Bettdecke, als gelte es, auch während der Nacht das verlangte Pensum zu absolvieren.
Einen Ring öffnen und vier geschlossene Ringe auf ihm einfädeln. Danach den Ring wieder schließen und vernieten. Die Ringe so zurechtlegen, dass der mittlere in eine Richtung zeigt und die anderen vier Ringe jeweils zu zweit auf einer Seite liegen und in die entgegengesetzte Richtung weisen.
Wie oft hatte er Laurenz diese Anweisung sagen hören! Nun war sie ihm auch im Schlaf geläufig.
Den Schritt wiederholen. Einen weiteren Ring öffnen und ihn mit den anderen verbinden …
Wer hätte gedacht, dass daraus jemals ein dichtes Kettengeflecht entstehen würde, das das Leben seines Trägers schützen sollte? An einer Holzstange aufgehängt, brachte
es die ganze Werkstatt zum Leuchten. Erzbischof Heinrich von Mainz konnte sich freuen. Seine Brünne war nahezu vollendet.
Geros Zangen, die stumpfe, kräftige, die er »Ente« getauft hatte, dann die Spitzzange, die den Namen »Specht« trug, und die Nietzange, die er aus einer Laune heraus »Kuckuck« nannte, schienen ihm inzwischen so vertraut wie alte Freunde, auch wenn an manchen Abenden seine Gelenke wund von ihrem anstrengenden Gebrauch waren.
Aber hatte er denn eine andere Wahl?
Kaum kroch die Morgendämmerung ins Zimmer, inzwischen von Tag zu Tag zögerlicher, als wolle ihn der Sommer, von dem Gero bei all der Plackerei kaum etwas mitbekommen hatte, zum Abschied verhöhnen, musste er schon wieder aufstehen. Ein paar Löffel Grütze, ein Krug kaltes Wasser - und dann hatten ihn die endlosen Eisenringe wieder, die ihn innerlich so mürbe machten, dass er kaum noch an Weglaufen dachte.
Einmal hatte er gewagt, sich das Kettengeflecht überzustreifen,
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