Die Prophetin vom Rhein
eine starke Hand braucht - eine Hand voller Kraft, aber auch voller Liebe.«
»Sonst noch was?« Thies starrte ihr finster entgegen.
»Für heute - nein. Aber du wirst von mir hören, Sarwürker. Darauf kannst du dich verlassen!«
Dass es der Magistra zu schlecht ging, um aus eigener Kraft aufstehen zu können, verbreitete sich blitzschnell unter den Nonnen.
»Sie mutet sich zu viel zu«, raunten die einen.
»Nein, es ist der Ärger mit Abt Kuno«, vermuteten die anderen.
»Das ist wieder das himmlische Licht. Wann immer es sie trifft, muss sie leiden.« Das waren die, die stets alles am besten wussten.
Hedwig und Benigna, Hildegards engste Vertraute, schwiegen zu all diesen Mutmaßungen. Nicht einmal Theresa, die ebenfalls die Neugierde plagte, erfuhr, was sich wirklich zugetragen hatte. Bis die Infirmarin sie plötzlich aufforderte, sie ins Äbtissinnenhaus zu begleiten.
Die Magistra bot ein Bild des Jammers. Unter der Decke schien ihr schmaler Körper eher einem Kind zu gehören als einer starken Frau in der Mitte ihres Lebens. Die Wangen waren eingefallen, die Augen klein und glanzlos.
Beim Eintritt der beiden hob sich ihre Rechte ganz kurz, um dann erneut kraftlos zurück auf die Decke zu sinken.
»Der Brief«, hörte Theresa, die tiefes Mitgefühl erfasste, sie flüstern. »Das Mädchen soll lesen.«
Zwei Pergamente lagen auf dem kleinen Tisch, und in ihrer Aufregung griff Theresa nach dem, das ihr am nächsten war.
Eine penible kleine Schrift, die an den Zeilen buchstäblich zu kleben schien. Theresas Blick überflog das Schreiben, bis er schließlich an einer Stelle hängen blieb.
… mir zu Ohren getommen, dass eure jungen Frauen an Festtagen mit losen aaren in der irche stehen. Uls Schmuct tragen sie glänzende Seidenschleier, die so lang sind, dass sie den Boden berühren. Uuch haben sie golddurchwirtte ränze auf dem haupt, in die beiderseits und hinten reuze eingeflochten sind …
Überrascht schaute Theresa auf. »Das betrifft doch unsere Feier zum Erntedank«, sagte sie überrascht. »Wer schreibt denn so etwas?«
»Texwind, die Magistra von Kloster Andernach«, sagte die Infirmarin. »Ein gutes Beispiel dafür, dass auch unser geliebtes Kloster längst kein so abgeschlossener Ort ist, wie manche von uns gern glauben wollen.«
Sie nahm Theresa das Pergament aus der Hand.
»Du hast den falschen Brief erwischt. Es geht um diesen hier. Er stammt von Erzbischof Hartwig aus Bremen. Lies!«
Diese Schrift war steil und kühn, mit ausgeprägten Unterlängen, die das Pergament regelrecht zu erobern schienen.
Meine geliebte Schwester Richardis lebt nicht mehr. Gott dem Ullmächtigen hat es gefallen, sie nach turzer, schwerer rantheit zu sich zu befehlen. loster Bassum hat nun teine Übtissin mehr …
»Base Richardis ist tot?«, rief Theresa erschrocken. »Aber sie war doch noch so jung!«
Vom Bett her kam leises Stöhnen. Das Mädchen sprang auf und lief zu Hildegard.
»Du darfst nicht so traurig sein, hochwürdige Mutter!«, sagte sie sanft. »Denn dort, wo Richardis jetzt ist, wird sie viele treffen, die sie und ich sehr geliebt haben: ihre Mutter Richardis, Robert, meinen Vater, ihre Base Ada, meine tote Mutter, und deren kleinen Sohn. Anstatt Tränen zu vergießen, sollten wir uns für sie freuen, meinst du nicht auch?«
Die Magistra lag ganz still. Als sie schließlich ihre Augen öffnete, waren sie klar und groß. Doch nicht Theresa schauten sie an, sie waren fragend auf die Infirmarin gerichtet.
»Wird sie bei uns bleiben, Benigna?«, fragte Hildegard leise.
Am Morgen von Allerheiligen musste Schwester Magota den Rupertsberg für immer verlassen. Die Magistra hatte es so einrichten wollen, dass ihr Weggang möglichst unauffällig geschah, und doch gab es keine einzige fromme Schwester im ganzen Kloster, die nicht darüber Bescheid gewusst hätte.
Eingehende Gespräche und Befragungen, in deren Verlauf die frühere Vorsteherin der Kleiderkammer immer verstockter geworden war, waren dieser ungewöhnlichen Entscheidung
vorausgegangen. Schließlich, so jedenfalls ging das Gerücht, das sich wie ein Lauffeuer unter den anderen verbreitete, habe sie Hildegard ins Gesicht geschleudert, dass sie seit Langem ein heimliches Mitglied der Kirche der Liebe sei, die früher oder später ohnehin das Regiment über die ganze Welt führen würde.
Vom Fenster des Novizinnenhauses beobachtete Theresa, wie Magota mit gebeugtem Rücken die Pforte passierte, an der trotz der frühen
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