Die Prophetin vom Rhein
Paradies habt ihr hier«, sagte sie. »Daran solltest du immer denken! Geschaffen von frommen, geschickten Frauenhänden. Eigentlich hast du auf dem Rupertsberg doch alles, was du zum Glücklichsein brauchst.«
Bis auf Willem, wollte Theresa protestieren, doch ihre Lippen blieben geschlossen.
Es war, als habe diese kurze Unterhaltung etwas zwischen ihnen verändert, Theresa glaubte das jedenfalls bei Evas nächstem Besuch zu spüren, nur ein paar Tage später. Die Hebamme kam allein und ungewöhnlich spät ins Kloster, wirkte aufgeregt und bedrückt zugleich. Ihre Lider waren schwer.
Vor Müdigkeit? Oder weil sie heftig geweint hatte?
Theresa bekam keine Gelegenheit, danach zu fragen, denn anstatt sie wie gewohnt freundlich zu begrüßen, nickte Eva ihr nur abwesend zu, dann nahm sie bereits Schwester Benigna in Beschlag. Erst nach einer ganzen Weile entdeckte Theresa die beiden Frauen wieder, die nun eilig zum Scriptorium liefen. Dort wurden sie bereits von Hedwig und ihren Schülerinnen erwartet, die auf allen verfügbaren Tischen Folianten und Codices ausgebreitet hatten.
»Der kleine Johannes fiebert stark und kann kaum noch atmen«, rief eine der Schwestern Theresa zu, die den beiden gefolgt war, um endlich herauszubekommen, was geschehen war. »Dazu dieser furchtbare Husten, der ihn quält! Eva hat schon alles versucht, aber nichts will helfen.«
Johannes, in ein und derselben Nacht geboren, in der ihr namenloser Bruder hatte sterben müssen! Plötzlich war es Theresa, als würde dessen zarter Lebensfaden zum zweiten Mal zerrissen. Zunächst spürte sie lediglich eine große Leere, als sei ihr Kopf zum schwarzen Klumpen geworden, doch dann stieg Widerspruchsgeist in ihr auf, ihre Gedanken begannen sich erneut zu regen.
»Hast du es schon mit Fliedertee versucht?«, fragte sie Eva.
Ein kurzes Nicken.
»Auch aus zerstoßener Rinde?«
Eva nickte erneut. Das Haar hing ihr halb aus der Haube, ihr Schweiß roch nach Angst. Zum ersten Mal fielen dem Mädchen die feinen Linien um die verweinten Augen auf.
»Was ist mit Lindenblüten?« Theresa war entschlossen, nicht lockerzulassen.
»Ja, natürlich. Und leider ebenfalls ohne Ergebnis. Das Gleiche gilt für Süßholz, Spitzwegerich und Wermut. Das meiste spuckt er ohnehin sofort wieder aus. Johannes ist
glühend heiß, als würde ein inneres Feuer ihn verbrennen. Eines meiner Kinder liegt schon auf dem Friedhof. Wenn ich ihn nun auch noch verliere …« Eva wandte sich ab, drückte den Rocksaum gegen die Augen.
»So weit ist es dank der Güte des barmherzigen Gottes noch lange nicht.« Das kam von Schwester Benigna, die Blatt um Blatt wendete und sich dabei tief über die Schriften beugen musste, weil ihre Augen seit dem letzten Winter schwächer geworden waren. »Schließlich sind wir ja auch noch da.« Ihr Finger fuhr die Zeilen entlang und hielt plötzlich inne. »Ein Absud aus Hagebutten«, las sie vor. »Stark erhitzt und so heiß genossen wie möglich, ein probates Mittel, das oftmals …«
»Johannes hustet, hab ich vorhin gehört?«, unterbrach sie Theresa, die inzwischen eilig die neuesten Abschriften von Hildegards Naturkunde durchgesehen hatte. »Wie genau? Klingt es rasselnd?«
»Ja, und wenn ich sehe, wie sein kleiner Körper sich dabei aufbäumt, wird mir ganz eng zumute.« Evas Tränen liefen erneut. »Ich muss so schnell wie möglich zu ihm. Josch hat die ganze Nacht bei ihm gewacht, ohne ein Auge zuzutun. Wenn der jetzt auch noch krank wird, weiß ich nicht mehr weiter.«
»Vielleicht könnte dem Kleinen Gundermann helfen«, sagte Theresa plötzlich.
»Das Engelskraut?«, rief Benigna. »Das taugt doch vor allem, um Blase oder Niere anzuregen! So jedenfalls hab ich es stets verwendet.«
»Ja, aber nicht nur. Die Magistra hat mir erst gestern ausführlich über die Gundelrebe diktiert. Sie senkt auch Fieber, bekämpft hartnäckigen Husten und wirkt schleimlösend. Damit hast du es bislang noch nicht versucht, oder, Eva?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Dann solltest du aus den Blättern einen Tee brauen, den du gut ziehen lässt. Gib reichlich Honig hinein, sonst wird der Kleine ihn nicht trinken wollen. Einen Teil der Blätter kannst du in Eiklar zerstampfen und auf seine Ohren streichen, dann klingen auch dort die Schmerzen nach und nach ab - so jedenfalls steht es bei Hildegard geschrieben.«
»Worauf warten wir noch?« Auf einmal war Benigna nicht mehr zu halten. »Zum Glück haben wir im Mai genug davon geerntet! Du bekommst,
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