Die Prophetin von Luxor
erwiderte er glatt.
»Ich, ich meine wir, wir stellen nicht gerade die amerikanische Durchschnittsfamilie dar. Meine Mom ist Engländerin und Archäologin, und mein Dad arbeitet für das Außenministerium. Er stammt ursprünglich aus Texas und war früher bei der Armee. Er war überall auf der Welt stationiert, deshalb bin ich schon als Kind allein meinen Eltern nachgereist. Die meiste Zeit haben wir in moslemischen Ländern gelebt; darum war Weihnachten für uns auch nie eine große Sache, es sei denn, wir sind nach Hause gefahren. Und dieses Jahr hat keiner von uns Lust gehabt, nach Hause zu fahren.«
Ich blickte über die schnell dunkler werdende Straße, von der gedämpfte Stimmen in den verschiedensten Sprachen zu uns heranwehten.
»Wahrscheinlich weil ich an so vielen verschiedenen Orten gewohnt habe, bleibe ich gerne länger an einem Fleck, wenn ich reise - um die Atmosphäre und Kultur besser aufnehmen zu können. Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man fünf Länder in drei Tagen macht.«
Wir lachten miteinander.
»Und in Ägypten bin ich ... weil meine Schwester eben ihren Doktor gemacht und mir vorgeschlagen hat, hier mit ihr zu feiern.«
»Wo sind Ihre Eltern jetzt?«
»Ich glaube in Brüssel. Man kommt kaum mit ihrem Terminplan mit.« Ich lachte. »Silvester treffen wir uns in Griechenland. Meine Eltern haben dort ein Haus, denn dort haben sie sich kennengelernt und geheiratet. Aber verpassen Sie nicht auch Weihnachten mit Ihrer Familie?« fragte ich.
Anton lächelte, ein wenig traurig, wie mir schien. »Meine Familie ist ein wenig zersplittert. Ich bin geschieden.«
»Haben Sie Kinder?« Es war mir peinlich, an ein so offenkundig schmerzhaftes Thema zu rühren.
»Nein. Meine Frau ist ebenfalls Wissenschaftlerin. Es ging gut mit uns beiden. Das habe ich jedenfalls gedacht, bis sie ihr, äh, Going-Out hatte und nicht länger verheiratet sein wollte.«
»Ihr Going-Out?« fragte ich verwirrt.
»Ja. Sie liebt eine andere Frau.«
»Ach, ich verstehe. Sie meinen, sie hatte ihr Coming-Out.
Das muß sehr schwer für Sie gewesen sein.«
Was man so peinliche Gespräche nennt!
»Das Schwierigste daran war, daß ich nicht verstehen konnte, wieso sie nicht mehr verheiratet sein wollte«, antwortete er.
»Fast zwei Jahre haben wir damit verbracht, zur Eheberatung zu gehen oder romantische Urlaube zu machen; ich wollte mich nicht scheiden lassen.« Ich spürte, wie er mit den Achseln zuckte. »Letzten Endes waren meine Wünsche allerdings zweitrangig. Es gab halt Dinge an mir, mit denen sie nicht mehr leben konnte.« Er hielt inne, als hätte er zuviel offenbart, dann sprudelte es aus ihm heraus: »Trotz allem ist sie jetzt glücklich, und wir arbeiten nach wie vor gut zusammen.«
Wir bogen zum Tempel ein und stellten uns zu den Menschen, die an den Toren der Touristenpolizei vor dem KarnakTempel anstanden.
Ich war dankbar für den Themenwechsel.
Trotz oder vielleicht wegen des multikulturellen Pöbels, der sich davor versammelt hatte, gehörte Karnak zu den eindrucksvollsten Anlagen, die ich je gesehen hatte, vor allem in der Nacht. Lampen erhellten die langgezogene Allee der Widdersphingen, und der ganze Tempel wirkte wie eine Verkörperung des Mysteriösen und Okkulten. Ich befingerte meinen Ankh-Anhänger und spürte einen Schauer, ähnlich jenem im Suk, über meinen Rücken laufen; einen winzigen Moment lang zweifelte ich, ob mein Plan für diesen Abend wirklich so weise war. Doch nur einen winzigen Moment. Ich hatte nicht vor, irgend etwas zu stehlen oder zu zerstören, ich wollte nur ein paar außergewöhnliche Aufnahmen von dieser Anlage machen. Vielleicht würde ich die Bilder sogar verkaufen und dadurch einen Teil der Reisekosten wieder einspielen können.
»Heute abend ist die Vorführung auf französisch«, eröffnete mir Anton. »Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie?«
Ich lächelte. »Nein. Französisch ist meine zweite Sprache, auch wenn ich eindeutig keinen Pariser Akzent habe.«
Ein dröhnender Gongschlag kündete an, daß die Show gleich beginnen würde, und wir mischten uns in das Gedränge, um Karten zu kaufen und die Tore zu passieren. Plötzlich wurden wir in die Dunkelheit gestoßen . dann richteten sich ein paar vereinzelte Scheinwerfer auf die mächtig aufragenden Steinpylone.
Eine sinnliche Frauenstimme kündigte vor dissonanter Hintergrundmusik an: »Möge der Atem Shus deine Braue streichen, o müder Reisender.« Eine Männerstimme gesellte sich dazu. »Schreite nun
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