Die Prophetin von Luxor
die Stimme, »die Priesterinnen sind zusammengerufen worden. Wir müssen Res Aufmerksamkeit gewinnen. Er ist krank und braucht unsere Hilfe. ReShera wollte schon deine Aufgabe übernehmen, aber wir haben nicht gewagt, das zuzulassen. Sie sieht nur mit dem rachsüchtigen Blick Sechmets, nicht mit dem gnädigen Auge Hathors. Komm mit, Herrin, bitte.«
Chloe gab sich alle Mühe, mit ihren Blicken das Tuch der Dunkelheit zu durchdringen, doch das war unmöglich. Die »andere« identifizierte die Stimme als die von Ankhem-Nesrt, acht Uhr. Im Gegensatz zu RaEm glaubte Chloe nicht, daß sie die Priesterin je hatte sprechen hören.
»Wirst du kommen, Priesterin? Ich habe Angst .« Die leise Stimme verstummte zu einem Schluchzen unter verschluckten Tränen.
Chloe drückte sich mit ausgestreckten Armen von der Wand weg. »Natürlich, Schwester«, sagte sie und spürte gleich darauf einen schlanken Körper in ihren Armen.
Das Mädchen schluchzte still vor sich hin. »Wie konnte das geschehen, große Herrin? Wieso haben uns die Götter verlassen? Die Ma’at ist zerstört!«
In der Stimme des Mädchens schwang Hysterie. »Sie wird sich wieder einfinden, Ankhem-Nesrt«, versicherte Chloe mit fester Stimme. »Doch wir müssen die Forderungen des Israelitengottes erfüllen. Er allein kann uns durch diese Zeit hindurchhelfen.«
Das Mädchen schwieg, während sie sich durch den Gang tasteten. »Wie kann er mächtiger sein als Amun-Re?« fragte sie laut. »Nie, nie zuvor ist uns Res Macht verborgen geblieben! Nicht in allen Dynastien aller Pharaos vor uns. Nicht einmal in der Zeit der Hyksos! Was ist das für ein Gott?« Aus ihrer Stimme klangen Argwohn und Respekt.
»Er ist das Ende und der Anfang. Was war und ist und kommen wird.« Die Worte fielen ihr wie von selbst von der Zunge, und Chloe erkannte, daß es Worte waren, die sie ihr Leben lang in der Kirche gehört hatte. Dann begriff sie, daß sie tatsächlich daran glaubte. »Komm, Schwester, wir müssen schnell zum Tempel.«
Leichter gesagt als getan. Die Straßen waren leer, doch die Atmosphäre war gespenstisch, denn überall waren die versteinerten Angstschreie eines überwältigten Volkes zu hören. Die Welt war auf den Kopf gestellt, und Chloe spürte die Angst durch die Gassen schleichen. So schnell wie möglich eilten sie durch die absolute Dunkelheit, geleitet von Ankhem-Nesrts Orientierungssinn. Chloe fürchtete, daß in Kürze ein totales Chaos ausbrechen würde.
Die Menschen hatten zuviel Angst. Um ein Haar hätte ein junger Mann mit schnellem Schwert sie aufgespießt. Es war eindeutig gefährlich, draußen zu sein, wo sich eine Katastrophe zusammenbraute.
Chloes Beine begannen bereits zu schmerzen, als Ankhem-Nesrt unvermittelt stehenblieb. »Wir sind eine Straße zu weit gegangen.«
Sie machten kehrt und fanden nach langem Suchen den Tempel. Von drinnen konnten sie das Heulen der Priesterinnen hören, die Hathor anflehten, Amun-Re zu Hilfe zu kommen. Sie traten in den Hauptraum, und Ankhem-Nesrt begann, an Chlo-es Kleidern zu ziehen.
»Was machst du da?« flüsterte Chloe.
Entsetzt hielt das Mädchen inne. »Ich ziehe dich aus, Herrin. Natürlich, wenn du lieber eine höhere Priesterin willst, die -«
»Natürlich«, fiel ihr Chloe ins Wort, die sich am liebsten ge-ohrfeigt hätte. Wann würde sie lernen, die »andere« zu konsultieren, ehe sie den Mund aufmachte! »Wir müssen nackt vor der Göttin tanzen, damit sie ebenfalls ihre Kleider ablegt und auf diese Weise Re erfreut, bis er aus seinem Versteck hervorkommt.« Chloes Meinung nach war das eine eher absurde Vorstellung, doch es war sicher besser, als gar nichts zu tun, denn der altägyptische Teil ihres Gehirns ging vor Ratlosigkeit und Entsetzen geistig die Wände hoch.
In RaEms Welt geschah nie etwas, das in den vergangenen tausend Jahren nicht schon einmal passiert war. Man verehrte die Wiederholung, das stetige, immer wiederkehrende, sich niemals ändernde und bis ins letzte vorgezeichnete Leben. Von Spontaneität hielten die alten Ägypter gar nichts. Vor Veränderungen scheute man zurück. Individualität war nicht gern gesehen. Verbesserungen waren unvorstellbar.
Teil des menschlichen Kreislaufs von Geburt, Leben, Ehe, Kindern und Tod zu sein wie auch des Kreislaufs des Landes -Überschwemmung, Wachstum, Ernte, Ruhe: dies waren die heiligen Rhythmen; alles, was davon abwich, wurde gefürchtet und mit Mißtrauen bedacht und mußte so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis gestrichen
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