Die Prophetin von Luxor
über dem Horizont, und der Himmel war in kupferne und violette Streifen geschmiedet. Unvermittelt hielten sie vor einem einsamen Schiff an. Chloe war klar, daß dies ihre letzte Gelegenheit zur Flucht war. Sie spannte die Beine an und versuchte, ihre Kraft abzuschätzen, während der Wachposten ihre Hände losband. Sobald die Fesseln gelockert waren, zog sie die Hände mit aller Kraft nach hinten. Entweder würde sie ihm mit dem Seil die Luft abschnüren, oder es würde reißen, und sie konnte loslaufen. Plötzlich befreit, sprang sie aus dem Wagenkorb.
Die schützenden Bäume waren nur noch wenige Schritte entfernt, als der Wachposten mit vollem Gewicht von hinten in ihre Beine krachte und sie flach auf den Bauch stürzte, daß ihr der Atem wegblieb. Er zerrte sie wieder hoch. Ihre Beine bibberten, und sie schnappte nach Luft. Er rief den Mann auf dem Deck zu Hilfe, und Chloe wagte, nur wenige Schritte von der Freiheit entfernt, ihren letzten Fluchtversuch. Sie hörte ein Brüllen, dann wurde es dunkel um sie herum.
Cheftu schmeckte Magensäure, als er mitansehen mußte, wie der Kushit Chloe ohnmächtig schlug. Sie hatte sich tapfer gewehrt und Cheftu war entsetzt, wie elend sie mittlerweile aussah. Selbst im fahlen Abendlicht konnte er das Blut auf ihren Knöcheln erkennen, die blauen Flecken in ihrem Gesicht, wie dünn und bleich sie war. Nicht mehr lange, dachte er. Dann gehörst du wieder mir! Und diesmal werde ich dich bis zum letzten Atemzug verteidigen.
Der Rohling hatte sie an Bord gebracht und verbrannte jetzt Federn, um sie mit dem beißenden Gestank aufzuwecken. Cheftu beobachtete, wie sie den Kopf schüttelte und sich dann zusammenkrümmte. Eine Gestalt in einem Kapuzengewand trat zu ihr hin, und Chloe wich zurück. Cheftu reckte den Kopf, um mehr zu erkennen, doch die Dunkelheit war zu weit fortgeschritten. Er sah den Vollmond langsam in den Himmel steigen und mußte an die Menschen denken, die er beschworen hatte, heute abend dem Beispiel der Israeliten zu folgen. Chloes Schreie ließen ihn aufspringen. Durch die abendliche Stille hörte er Leder auf Fleisch klatschen. Auf ihr Fleisch. Säure tanzte in seinem Magen. Er würde den Kushiten und diesen Kapuzenkerl umbringen. Er würde sie alle beide umbringen.
Die Schreie brachen ab, und das Licht der Fackeln fiel auf den Kapuzenmenschen. Es war eine Frau, und die Stimme, mit der sie die Sechmet-Wächterinnen auf dem Boot herbeirief, klang irgendwie vertraut. Dann waren sie und der Kushit verschwunden, und das Rattern ihres Streitwagens verhallte im Dunkel.
Der höher steigende Mond überflutete die Szenerie mit seinem Licht. Cheftu lauschte gespannt. Er hörte nichts, also schlüpfte er aus seinen Sandalen, stahl sich durch die Schatten und kroch auf das Boot zu, das Schwert in der Hand und den Dolch zwischen den Zähnen. In seinem blauen Trauerschurz verschmolz er fast völlig mit der Dunkelheit und konnte die erste Sechmet-Wachpriesterin mit Leichtigkeit außer Gefecht
setzen.
Ohne ein Geräusch sank ihr Leib zu Boden, seinen juwelenbesetzten Dolch zwischen den Rippen. Er zog die Klinge wieder heraus, sah mit zusammengebissenen Zähnen das Blut aus der Wunde hervorquellen und schluckte den Geschmack von Erbrochenem in seinem Mund hinunter. Dann wischte er die Klinge an ihrem Schurz ab. Wieder tauchte er ein in die grauen Schatten der Nacht.
Die zweite Wächterin war nicht so leicht zu überwältigen, sie lieferte ihm einen lautlosen Kampf, ehe Cheftu die Klinge in ihr Fleisch stoßen konnte, um sie dann wie ein Liebhaber in den Armen zu halten, bis sie sich nicht mehr bewegte.
Diesmal machte er sich nicht die Mühe, den Dolch wieder herauszuziehen. Endlich war er bei Chloe angekommen, die man an den Mast gefesselt hatte, und löste ihre Handgelenke. Das Mondlicht schien auf die Schwielen auf ihrem Rücken. Man hatte sie geschlagen, doch nicht bis aufs Blut. Ihr Puls war kräftig.
Nachdem er eine Hand auf ihren Mund gepreßt hatte, zog er eine verkohlte Feder unter ihrer Nase hindurch. Sie zuckte hoch und wollte schon Luft zum Schreien holen, doch Cheftu preßte seinen Mund auf ihren und erstickte damit jedes Geräusch.
Als sie sich schließlich in seinen Kuß schmiegte, löste er sich wieder von ihr. »Kannst du stehen?«
Sie sah ihn benommen an.
»Ja. Wie bist du hierhergekommen?«
»Später, Geliebte. Wir müssen weg.« Er sah zum Mond auf, der riesig und orange am Himmel stand wie ein Erntemond. Eine Seelenernte, dachte er grimmig.
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