Die Prophetin von Luxor
»Heute nacht ist das Passah-Opfer. Kannst du gehen?«
Langsam und schwankend kam sie auf die Füße. Er half ihr eher hastig als elegant die Leiter hinunter. Einen Moment blieb Chloe über der leblosen Gestalt der Wächterin stehen, dann blickte sie auf die Füße der ungewöhnlich großen Frau. »Sie hat tatsächlich meine Schuhgröße«, flüsterte sie, kniete nieder und band die Sandalen der Frau auf. Als Cheftu mitbekam, was sie tat, trieb er sie zur Eile an. Sie nahmen die Schuhe mit und hasteten in den Schutz der Bäume.
Cheftu nahm seinen Beutel mit Medizin und rieb hastig Salbe auf Chloes Fußgelenke, während sie ihr schmutziges Gewand von sich warf und in das blaue Kleid stieg, das er mitgebracht hatte. Er preßte sie an sich und genoß eine Sekunde lang nur diesen Augenblick. Dann kniete Cheftu über einer Sandale, während sie die andere festschnürte. Sobald Chloe angekleidet war, reichte er ihr einen Korb und zog sie hinter sich her durch die Straßen der Stadt.
Thut stand auf der Brustwehr und sah den Mond aufgehen. Dies also war die Nacht des Todes. Seine Elitewachtruppen waren nutzlos, ihren starken Leibern und blitzenden Schwertern zum Trotz Bald würden sie blutleer als Opfer für den Stolz des ägyptischen Throns am Boden liegen.
Der Mond wurde immer röter, je höher er in den Himmel stieg bis er die ganze Stadt in die Farben des Todes tauchte. Weiß für die Leichen, die heute nacht ihre Reise in die Nachtwelt antreten würden. Rot für das Blut der Kinder, die sterben würden, ohne je richtig gelebt zu haben. Blau für die Khaibit-Schatten mit ihren Fängen und Krallen in jenen dunklen Straßen und für die Farbe, die ganz Ägypten ab morgen siebzig Tage lang tragen würde.
Mit bitterer Freude fiel ihm ein, daß Senmut ebenfalls ein erstgeborener Sohn war.
Chloe und Cheftu hasteten schweigend durch die dunklen, stillen Straßen. Die Nacht war gespenstisch, die Stille war wie unheilverheißender Lärm. Der Mond hing tief und voll am Himmel . in einem Kreis so rot wie Blut. Chloe blieb stehen, um Atem zu holen, und schnaufte, eine Hand auf die Brust gepreßt: »Wieso ist niemand unterwegs? Es ist mitten unter der Woche, aber alle Straßen sind verlassen.«
»Heute ist das Passah-Opfer. Hast du ältere Geschwister?« Seine Stimme klang belegt und schroff.
Chloe überlegte einen Moment. »Natürlich, Camille und Makab.« Dann begriff sie die Bedeutung ihrer Worte.
»O gütiger Gott. Makab?«
»Ich habe ihm gesagt, wie er sich schützen kann. Ihm dürfte nichts passieren.« Hoffentlich, ergänzte Cheftu insgeheim.
»Und du?« Ihre Stimme war das Echo eines Flüsterns.
Er schwieg, während ihre eiligen Schritte durch die Straßen hallten. »Ich habe einen Bruder, Jean-Jacques.« Er holte Luft.
»Hier bin ich jedoch der Älteste.«
Seine Worte trieben sie von neuem an, und so flohen sie weiter in das Viertel der Apiru.
»Cheftu, sieh nur!« flüsterte sie mit vor Angst bebender Stimme.
Er wußte, was sie sehen würden. Dennoch wollte er nicht glauben, daß dies die richtige Zeit war; es paßte nicht zu dem, was die Geschichtsforscher berichteten. Ramses war der Pharao des Exodus. Ramses, der die Kinder Israels an Pi-Ramessa hatte bauen lassen, der sie Lehmziegel ohne Stroh machen ließ. Offenkundig war nicht alles richtig, was François als Geschichte gelernt hatte. »Auf Türsturz und Türstöcken ist Blut?«
»Genau.« Chloe wandte sich langsam ab und sah zu dem aufgeblasenen, roten Mond auf. »Heute nacht geht der Engel durch die Straßen und trennt die Gläubigen von den Ungläubigen. Hast du das nicht gesagt?« Ihr Blick war immer noch auf den Mond gerichtet. »Er scheint ständig größer und röter zu werden.«
Cheftu spürte, wie sie unter dem dünnen Umhang zitterte.
»Stimmt. Wir müssen uns beeilen. Meneptah wird auf uns warten. Er hat gewußt, was ich heute nacht vorhatte, und wenn wir nicht auftauchen, wird er sich Sorgen machen.« Er gab ihr einen schnellen Kuß auf die Stirn, dann eilten sie weiter die dunkle Straße entlang, mit schnellen, doch behutsamen Schritten.
Die schmalen Gassen wanden und teilten sich in mitternachtsblaue Sackgassen, düstere Irrwege und vollkommene Verwirrung. Plötzlich blieb Chloe stehen. Ihr Mund war wie ausgedörrt. »Wo sind wir, Cheftu? Wieso ist kein Licht in den Häusern?« Angst stand in ihren mondbeschienenen Augen, als sie ihn ansah. »Ich glaube, wir finden nicht mehr rechtzeitig hin, Cheftu«, prophezeite sie mit wackliger
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