Die Prophetin von Luxor
zwei Plätze auf einem Schiff zum Großen Grün gebucht hatte, aber in all der Verwirrung, die durch den Tod eines Drittels der Bevölkerung und durch das Verschwinden eines weiteren Fünftels entstanden war, hatte niemand sagen können, ob sie es auf dieses Schiff geschafft hatten. Offensichtlich hatte Cheftu RaEm ihrer rechtmäßigen Strafe entzogen; Thut hatte die medizinisch präzisen Wunden an den toten Wächterinnen gesehen. Nur ein einziger Mann konnte so akkurat töten.
Er seufzte wieder. Sie mußten gefunden werden.
Sie wußten - und zwar als einzige, soweit er das zu beurteilen vermochte -, was aus Hatschepsut und ihrer Elitetruppe geworden war.
Der Soldat vor ihm erhob sich. »Geht. Erfrischt euch zwei Tage lang. Sobald sich Re am dritten Tag erhebt, werdet ihr die Jagd mit neuen Soldaten wieder aufnehmen. Ihr müßt sie finden. Und zwar lebendig.« Thut hob die Hand, daraufhin verneigten sich die beiden und wichen rückwärts zur Tür zurück. Er trat auf den Balkon.
Der angeschwollene Fluß wand sich durch den schwarzen Boden wie ein Silberband, das in hundert filigrane Stränge geschmiedet worden war. Die meisten Häuser der einfachen Arbeiter waren überflutet, und Thut wußte, daß sich hinter ihm eine primitive Ansiedlung temporärer Bauten befand, aus denen die Rekkit zusahen, wie die Wasser allmählich zurückwichen und den dicken, schwarzen Schlamm zurückließen, der in diesem Land gleichbedeutend mit Leben war. Sein Schurz klebte ihm in der schwülen Luft an den Beinen, und zum ersten Mal seit dem Freitod seiner Frau verspürte Thut ein leises Beben der Begierde.
Und zugleich ein nervöses Grummeln. Etwas kitzelte seine Erinnerung wach, und er rief nach den Wachen. Das letzte Mal,
als er mit einer Frau zusammengewesen war ...
Dekane später ging Thut durch die nächtlich stillen Straßen und suchte nach jenem einen Pfad. Zwei Soldaten folgten ihm mit geschwollener Brust, und er mußte sich dazu zwingen, nicht loszulaufen und sie abzuhängen. Die Erstgeborenen . wie lange würde Ägypten ihren Tod betrauern? Er erreichte den Fluß und begriff, daß er schon wieder zu weit gegangen war. Er machte kehrt und ging zurück, sorgfältig in jede Gasse spähend, ob dort nicht der schmale Pfad zu dem alten, verborgenen Tempel abzweigte.
Er sah gedankenverloren zu Boden, als er plötzlich die dunkel in den Sand gezeichneten Umrisse zweier Hörner und einer Scheibe auszumachen meinte. Er blickte in die Richtung, in welche die Hörner zeigten, und entdeckte den hinter Gestrüpp und Ostraca verborgenen Pfad. Über und auf die Steinscherben steigend, betrat er ihn und folgte ihm durch das struppige Unterholz. Der Pfad senkte sich, wie er noch wußte, und endete unerwartet vor einer Tür.
Thut erinnerte sich an die Tür, die in der unnachgiebigen Dunkelheit vor vielen Monaten einen Spaltweit offengestanden hatte. Er drückte sie nach innen, und sie gab nach. Sobald er in die kleine Steinkammer trat, sah er die blutbefleckte steinerne Liege. Die arme Kleine, dachte er. Sie war so jung, so unschuldig gewesen. Man hatte sie unter Drogen gesetzt, begriff er jetzt. Sie hatte vor ihm keinen Mann gekannt, doch er würde schätzen, daß sie sehr wohl sinnliche Erfahrungen gemacht hatte. Ihre Reaktionen hatten das bezeugt.
Möge es den Göttern gefallen, daß Ägypten nie wieder zu solch archaischen Ritualen Zuflucht suchen mußte! Die Götter wollten kein Menschenblut, und Thut fühlte sich immer noch befleckt durch das Opfer, das er gebracht hatte. ReShera hatte sie geheißen, und er war überzeugt, daß er sie schon früher gesehen hatte.
Mit leise klatschenden Sandalen durchquerte er den Raum.
Weshalb war er hergekommen? Weshalb?
Weil irgend etwas nicht stimmte. Hatschepsut hatte ihr Urteil zu schnell gefällt, und Cheftu war völlig überrascht gewesen, als er das Mädchen gesehen hatte. Hatte er nicht sogar erzählt, er hätte sie für älter gehalten? Nicht einmal die Schwesternschaft hatte RaEm verfolgt, wie es angebracht gewesen wäre, sondern sie ziehen lassen und Hathor statt dessen mit zwei Priesterinnen zu wenig gehuldigt.
Natürlich hatte die neue RaEmhetep-Priesterin den frei gewordenen Platz eingenommen, doch sie war erst vier Jahre alt. Thut, königlicher Prinz Ägyptens und geweiht in den Sieben Stufen der Priesterschaft Wasets sowie den Drei Stufen des Tempels-des-Kas-Ptahs, wußte, daß es unklug war, auf solche Weise Gottesdienst zu halten.
Er ließ sich auf die steinerne Bank sinken
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