Die Prophetin von Luxor
anderen Kindern überlegen. Wie könne ich es wagen, die Königin so zu verleumden? Ich wurde auf der Stelle nach Waset zurückgeschickt. Jahrelang diente ich im Tempel von Karnak. Ich hatte zwar nur wenig Macht, doch ich brachte meine Zeit in der Gegenwart des Gottes zu und studier-te die heiligen Schriften. Ich begann, den Nachthimmel wie eine Karte von Anweisungen und Hinweisen zu lesen. Nie wieder hat man mich gebeten, ein Horoskop zu legen, und den jungen Prinzen bekam ich erst wieder zu Gesicht, als er in die Priesterschaft eingeführt wurde.
Die Riten zogen sich über zwei Jahre hin. Er war ein schneidiger Junge - mit starken Zügen, gut gebaut, ein Sohn, wie ihn sich jeder Mann wünschen würde. Seine Augen waren schwarz wie die von Aset, und im Umgang mit Bogen, Messer und Pferd stand er Thut um nichts nach. Er war tapfer, ruhig und klug. Selbst ich hatte an dem zu zweifeln begonnen, was mir meine Erinnerung als Wahrheit bewahrt hatte.«
Sein Blick verband sich mit ihrem, und sie sah die Lichter in seinen schwarzen Augen tanzen. »Es gibt Gottesdienste, die ausschließlich von Angehörigen des Königshauses durchgeführt werden dürfen. Da Pharao ein Gott ist, ist er auch der oberste Priester. Er vereint in sich mehr Magie und Macht als jedes andere Wesen. Im vierten Grad der Priesterschaft lebt der Kandidat anderthalb Jahre in absoluter Abgeschiedenheit. Während dieser Zeit übt er das zuvor Gelernte ein, vor allem die astrologischen, medizinischen, architektonischen und osiri-schen Aspekte der vorangegangenen Weihestufen. Dabei sind ihm bestimmte Speisen, sexuelle Erfüllung und Alkohol verboten.
Ramoses wurde in einen Tunnel unter meinem Bereich des Tempels gesperrt. Die Worte, die ich so viele Jahre zuvor gesprochen hatte, waren inzwischen nur noch eine geheimnisvolle Legende; Ägypten liebte den jungen Prinzen und betete für ihn, während er die sieben Stufen der Priesterschaft erklomm. Ich kam oft an dem Raum vorbei, in dem er gefangengehalten wurde, und hörte ihn sprechen. Er redete dabei in einer mir unbekannten Sprache, was meine Neugier weckte, da ich die Sprachen aller Länder sprach, mit denen Ägypten Handel trieb.
Ich begann, Erkundigungen anzustellen, und erfuhr, daß Ramoses von einer Apiru gesäugt worden war, einer Israelitin, um genau zu sein. Durch ein ganzes Netz von Kanälen gelang es mir schließlich, an eine ihrer kostbaren Schriftrollen zu kommen, und ich lehrte mir selbst ihre Sprache. Ich begann, Ramoses während seiner Tagesarbeiten zu belauschen.
Er betete zu einem fremden Gott. Er betete wie ein Kind: Er sang mit seelischer und geistiger Hingabe Lieder, die er eigentlich nicht verstehen konnte.« Der Alte nahm einen weiteren Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Schließlich war die Zeit reif, ihn aus den Tagen des Zornes zu entlassen und ihn in die Schlacht gegen die Khaibits zu schik-ken. Er durchlief alle übrigen Stadien der Initiation und wurde im Alter von vierzehn Jahren von seinem Vater freudig wieder aufgenommen.
Obwohl er noch ein halbes Kind war, nahm Thut ihn mit auf seine Feldzüge und ermunterte ihn, seinen Horizont auf jede nur erdenkliche Weise zu erweitern. Ich hielt mich bedeckt und fragte mich gleichzeitig, wie teuer meine Feigheit Ägypten wohl zu stehen kommen würde. Ramoses wurde erwachsen, heiratete, konnte aber keine Kinder zeugen. Thut schämte sich für ihn, darum schickte er ihn auf Kriegszüge außer Landes. Ramoses blieb lange auf dem Sinai, und nach seiner Rückkehr reiste er nach Avaris. Ich war mir nicht sicher, ob er das tat, weil er seine alte Amme besuchen wollte - in aller Heimlichkeit, wohlgemerkt - oder seinen geliebten Cousin Nefer-Nebeku, den Wesir des Straußen-Gaus.
Thut der Erste bekam noch mehr Kinder. Seine erste Frau gebar eine liebreizende Tochter und dann noch eine zweite, die Hatschepset genannt wurde. Etwa zu der Zeit, als Hatschepset schon in der Schule, aber noch ein Kind war, tötete Ramoses Nefer-Nebeku; er war Hatschepsets Verlobter. Bis Thut die Neuigkeit erfuhr, war Ramoses bereits in die Wüste geflohen.
Thut opferte viele Männer auf der Suche nach seinem umher-irrenden Sohn. Er war bereit, Ramoses zu vergeben, bis ein israelitischer Sklave namens Do’Tan bei ihm vorsprach und behauptete, Ramoses habe seinen königlichen Cousin bei einer Auseinandersetzung um eine Sklavin getötet.« Imhotep lachte leise, doch diesmal klang sein Lachen freudlos. »Thut war außer sich. Seine älteste
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