Die Prophetin von Luxor
Dich. Ruhe in Deiner Barke, o Amun-Re, Herrscher über die Welt. Spreche zu den ...« Natürlich, rief ihr »anderer« Verstand aus, sie brachten den goldenen Gott zu Bett. Chloe kauerte sich noch tiefer zusammen.
Sie würden durch den Säulengang kommen; sie konnte bereits das Licht sehen. Der Widerschein der Flammen leckte in die Halle und erweckte die strahlend bunten Bilder, die alle Säulen und jeden Zentimeter der Decke bedeckten, zum Leben. Unwillkürlich schreckte sie zusammen, als die grotesk riesigen
Schatten der Priester über die Wände zuckten. Nicht einmal die unzähligen Fackeln vermochten das drückende Dunkel über ihr zu durchdringen. Die Säulen schienen bis zum Himmel zu reichen. Chloe verdrehte den Hals. Mit Mühe konnte sie das Glitzern der golden und silbern gemalten Sterne ausmachen, die über die mitternachtsblaue Decke schossen.
Barfuß und mit geschorenen Köpfen schritten die Männer durch den Gang. Von Chloes Versteck aus wirkte der Zug wie ein Relief, wie eine zum Leben erwachte Grabmalerei. Dissonant hoben und senkten sich die Stimmen, gespenstisch und sakral zugleich.
Eine weitere Priestergruppe traf ein.
Der Fackelschein erhellte ihre weißen, steifen Schurze und verlieh den um die Leiber gewundenen Tüchern einen bernsteinfarbenen Schimmer.
Noch mehr Priester, diesmal in leopardengeflecktem Amtsornat. Und noch mehr Priester. Ihr Gesang wogte in der Halle hin und her und vervielfachte die hundert Stimmen zu Tausenden.
Als nächstes kamen die Priester mit der safrangelben Standarte von Amun-Re, dem großen goldenen Gott von Waset. Der Verkörperung der Sonne selbst. Dem himmlischen Vater Pharaos. Chloe stockte der Atem, als ihr Blick schärfer wurde. Diese Priester trugen auf ihren Schultern eine mit Elfenbein verzierte Barke, in der eine rundum vergoldete Statue lag.
Das alles für eine Statue?
Ihr ägyptischer und ihr westlicher Verstand begannen miteinander zu streiten. Für einen Teil ihres Geistes war dies Gott selbst. Man gab ihm zu essen, man wechselte seine Kleider, er ging andere Tempel und andere Götter besuchen. Diese hölzerne, mit Gold überzogene Statue verkörperte die Balance von Leben und Gerechtigkeit.
Ihr westlicher Geist sah ein einzigartiges Museumsstück vor sich. Die Vorstellung, für einen »Gott« sorgen zu müssen wie für einen invaliden Verwandten, war lächerlich. Gott war schon per Definition das All-Seiende und Alles-Beendende. Man sollte ihn nicht vom Bad ins Schlafzimmer tragen müssen.
Ihr abergläubischer Verstand meinte, die langen schwarzen Augen Amun-Res im schwächer werdenden Fackelschein zwinkern zu sehen, fast als könnte er ihre blasphemischen Gedanken an diesem geheimnisvollsten und heiligsten aller Orte lesen. Dann drehte er ihr seinen in Leinen gekleideten, vergoldeten Rücken zu, und sie atmete behutsam aus. Die Prozession war beinahe zu Ende.
Als nächstes folgte eine Gruppe von Priestern, die Weih-rauchkesselchen durch die bereits myrrhegeschwängerte Luft schwenkten. Chloe unterdrückte ein Husten. Sie zählte sieben weitere Priestergruppen, die samt und sonders diese Goldstatue ansangen und priesen.
Zum Schluß kam wie der kleine rote Eisenbahnwagen aus dem Kinderlied ein einzelner Priester mit Bürste und antiker Kehrschaufel, der den Alabasterboden wieder sauberfegte. Er trug sogar eine rote Schärpe. Chloe grinste vergnügt in der neuerlichen Dunkelheit.
Sie war wieder allein.
Erneut auf RaEms Erinnerung bauend, schlich sie zwischen den zahllosen turmhohen Säulen hindurch und durch atemberaubende Hallen, bis sie die kleine Kammer erreicht hatte, in der, etwas abseits, Hathor verehrt wurde. Sie war keine Hauptgöttin in Karnak, doch die Hathor-Kammer war von einer königlichen Nebenfrau erbaut worden, die viele Überschwemmungen lang versucht hatte, schwanger zu werden. Als sie schließlich ein Kind geboren hatte, war es tot zur Welt gekommen, ging das Gerücht. Trotzdem behauptete sie, einen Sohn zu haben, einen der vielen Nachkömmlinge von Thutmo-sis I.
Jahre später hatte ebendieser Sohn einen Wesir Pharaos getötet, während er ein Bauprojekt beaufsichtigte. Der Zorn Thut-mosis’ I. war grenzenlos gewesen. Vergeblich hatte er nach dem angeblichen Sohn suchen lassen, bevor er schließlich aufgab und seinen Namen aus allen offiziellen Schriftstücken streichen ließ.
Chloe war bei den metallbeschlagenen Türen angekommen, die zu Hathors Silberkammer führten, und drückte vorsichtig eine auf. Der Raum war so,
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