Die Prophetin von Luxor
Nimm deine Krallen von mir.«
Noch während er die letzten wütenden Worte hinschleuderte, die RaEm offenkundig etwas gesagt hätten, spürte Chloe, wie etwas in ihm weich wurde, als er in ihre Augen sah.
Süße Isis, dachte Cheftu. Offenbar wußte RaEm nicht, was sie tun oder wohin sie sich wenden sollte. Obwohl er keine Anzeichen für eine physische Krankheit finden konnte, schien sie tatsächlich einen Teil ihres Gedächtnisses verloren zu haben. Falls das zutraf, war das ein schwerer Nachteil für sie. Sie schien nicht zu wissen, daß Hat und Hapuseneb ihr nachspio-nierten, daß sie herauszufinden versuchten, ob RaEm ihr Gelübde gebrochen hatte, und daß die beiden überlegten, wie sie sich Gewißheit verschaffen und diesen unwägbaren Faktor ausräumen konnten. Diesmal hing das Schwert über ihr, der so kühlen und berechnenden RaEm.
Doch Cheftu empfand weder einen Machtrausch noch den süßen Geschmack von Rache, als er die dünnen, angespannten Linien in ihrer Stirn und um ihre vollen Lippen sah. Hatte er ihr verziehen? Vergessen hatte er gewiß nicht.
Er packte die Hand in ihrem Schoß und drückte sie so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»RaEm«, sagte Cheftu plötzlich zu seiner eigenen Verwunderung. »Es gibt Menschen, die dich nicht verraten werden. Erzähle denen deine Geschichte. Vielleicht können sie dir helfen; wir leben in unsicheren Zeiten. Vergiß nicht, daß wir uns einst nahe waren, auch wenn wir einander während der letzten Jahre gehaßt haben. Um deiner Familie und meiner Wertschätzung für Makab willen verrate mir, nach wem ich schicken soll. Du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen.«
Sie sah nicht auf.
Cheftu richtete sich auf, wartete einen Moment und verwünschte sich dann für seine törichten Hoffnungen.
Nach einem knappen Abschied zog er sich mit den beiden W’er-Priestern zurück. Sie rührte sich nicht vom Fleck, doch Cheftu spürte ihren Blick in seinem Rücken, als er sich durch den kühlen dunklen Gang von ihr entfernte.
3. KAPITEL
Chloe schlich aus ihrem Zimmer. Es war dunkel, und sie wußte, daß Basha fort war. Einen festen weißen Umhang um sich wickelnd, trat sie vor ihre Tür; zum ersten Mal, seit sie in dieser Phantasiewelt erwacht war, war sie allein.
Drückender Myrrhegeruch lag in der Luft. Es war Amuns Lieblingsduft, deshalb hatte Pharao nach Punt ausgesandt und Myrrhebäume bringen lassen. Deren Duft zog ununterbrochen durch den Tempel.
Chloe brachte der stickige Geruch fast zum Würgen. Der geistigen Karte des Tempels folgend, die sie von der »anderen« erhalten hatte, eilte sie den Gang hinab. Bald müßte sie in einen der Hauptsäle gelangen.
So war es auch.
Chloe schlug das Herz bis in den Hals. Der Raum war vollkommen anders als alles, was sie sich je ausgemalt hatte. Kein Begriff in ihren beiden Wortschätzen vermochte die Pracht auszudrücken, die sie vor sich sah. Wie hypnotisiert blieb sie im flackernden Fackelschein stehen und starrte.
Sie befand sich in einer Säulenhalle. Jedoch nicht jener, die sie im zwanzigsten Jahrhundert besichtigt hatte. Diese Halle hier überstrahlte sie bei weitem an Eleganz, an Schönheit und an Erhabenheit. Mit zitternder Hand fuhr sie sich über die Lippen.
Es stimmte! Mein Gott, sie war im alten Ägypten.
Sie ließ sich gegen die Wand sinken und glitt langsam zu Boden, weil ihre flatternden Beine sie nicht mehr trugen. Sie brachte nicht die Kraft auf, alles in sich aufzunehmen. Totale Überlastung der Sinne. Sie versuchte, das Bilderchaos zu entwirren, indem sie sich ein Detail nach dem anderen vornahm.
Sie blickte auf den Boden und fuhr mit dem Finger die Lo-tosblüten-Umrandung nach. Sie schien gleichzeitig zu leuchten und zu glühen. Sie war aus Alabaster! Ihr Finger berührte eine Lotosblüte. Sie bestand aus eingelegtem Lapis mit einer Goldfassung. Gold? Auf dem Boden? Sie schluckte.
Das niemals endende Auf und Nieder der Stimmen im Hintergrund wurde allmählich lauter. Angestrengt versuchte sie, die Worte zu verstehen.
»Du hast in der Anderswelt den Nil erschaffen und bringst ihn hervor, um den Menschen das Leben zu schenken. Du hast die Menschen zu Deinem Frommen erschaffen, daß sie Dir dienen und Dich verehren! Herr über alles, der Du ihretwegen müde bist! Herr über alle Länder, der Du Dich ihretwegen erhebst! Scheibe des Tages und Sieger über die Nacht! Wie vollkommen Deine Ratschläge sind, o Herr der Ewigkeit! Du bist die Lebenszeit selbst, und darum verehren wir
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