Die Prophetin von Luxor
und Bäume und Blumen auf ihr Notizpapier zu zeichnen. Sobald Res Licht die Welt rosa und gold tönte, packte sie das Papier weg und fiel in einen kurzen, aber verjüngenden Schlaf.
Einige Tage darauf spazierte Chloe auf dem Deck herum und schaute den Arbeitern und Sklaven zu. Sie fühlte sich eigenartig fehl am Platz, und doch war ihr alles recht vertraut. Sie be-fanden sich jetzt auf einem ruhigeren Flußabschnitt, und von der Reling aus war nichts zu sehen als Wasser, Wasser, Wasser. In Chloes Erinnerung verschwamm en allmählich die Felder mit Emmer, Flachs, Weizen und Dinkel.
Auf den Dämmen beiderseits des Flusses standen kleine Hütten, wo, wie die »andere« ihr erklärte, die Rekkit und die Apiru im Frondienst lebten, die dafür zu sorgen hatten, daß die Bewässerungskanäle sauber und die Deiche stark blieben. Die Hütten waren schnell zu bauen, was auch notwendig war, da während der Überschwemmung alle in höhergelegene Gebiete zogen. Wenn der Nil über die Ufer trat und die gesamte Ebene überschwemmte, blieben nur Steinbauten stehen: die Häuser der Götter. Nachdem die Wasser zurückgewichen waren, oblag es den niederen Priestern, die Tempel zu reinigen und zu reparieren.
Chloe konnte nicht begreifen, daß die Ägypter die jährliche Flut so ungerührt hinnahmen. Tatsächlich warteten sie sogar darauf. Einmal im Jahr würde ihr gesamtes Land überflutet. Einmal im Jahr fingen sie wieder ganz von vorne an.
Wenn das Wasser wieder in seinem Bett floß, kehrten sie an dieselbe Stelle zurück und bauten alle gemeinsam ihre Lehmziegelhäuser wieder auf. Die einzigen Gebiete, die von den anschwellenden Wassern unbehelligt blieben, lagen in der Wüste, wie zum Beispiel die Stadt der Toten am Ufer gegenüber von Waset.
Die Stadt der Toten, wo die in den Gräbern arbeitenden Goldschmiede, Bildhauer und Künstler wohnten, war weit genug vom Fluß entfernt und lag so hoch, daß die Einwohner zum Teil seit Generationen im selben Haus lebten. Für einen Ägypter war eine derart lange Zeitspanne beinahe unvorstellbar. Nur Tempel und Gräber überdauerten die Zeit. Alles andere unterlag einem festen Muster von Zerstörung und Neuschöpfung, Leben und Tod, Überschwemmung und Sommer. Diese beständige Wiederholung verlieh Kraft und Sinn, denn allein der altbekannte Kreislauf wurde als angemessen und der Ma’at entsprechend betrachtet.
Nach zwei ägyptischen Wochen auf dem Wasser hatte Chloe keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden. Seit Tagen waren sie an keiner großen Stadt mehr vorbeigekommen. Über ihnen hing der blaue Himmel, unter dem zwergenhaft das winzige Boot auf dem breiten Fluß dahinzog, dem Großen Grün entgegen. Bisweilen gesellte sich Cheftu beim Atmu zu ihr. Er sprach nicht viel, aber andererseits war es nicht einfach, eine Unterhaltung mit jemandem zu führen, der im Grunde stumm war. Der Notizblock war hilfreich, doch ein recht umständliches Medium, wenn es darum ging, inhaltsleeres, angestrengtes Geplänkel auszutauschen.
Sie verbrachte viel Zeit damit, ihn zu beobachten. An Bord verzichtete er auf all das Gold und die vielen Juwelen, mit dem sie ihn in Waset gesehen hatte, obwohl er immer noch ausgefeilte Augenschminke und einen Kopfschmuck trug. Chloe fragte sich insgeheim, ob er an Haarausfall litt. Soweit sie sehen konnte, faulenzte er vor sich hin. Vielleicht ähnelte er in mehr als nur einer Hinsicht einem Löwen.
Immer noch probierte er neue Zaubersprüche und Heiltränke aus, um ihr die Stimme wiederzugeben. Der letzte war besonders widerlich gewesen. Sie hatte den Verdacht, daß es sich um irgendwelchen Tierurin gehandelt hatte, in den er eine grüne Kräuterpaste gemischt hatte, eine Art ranziges Pesto. Sie verzog das Gesicht, wenn sie daran dachte, wie Cheftu darauf bestanden hatte, daß sie den ganzen Becher trank. Daß sie nicht in der Lage war, ihre Antworten in Worte zu fassen, frustrierte sie noch mehr. Cheftu sagte ihr einfach, was er ihr mitteilen wollte, dann spazierte er davon, ohne ihre niedergeschriebene Erwiderung abzuwarten.
Die Sonne ging gerade unter, als sie ihn in ihrem Rücken hörte. »Herrin RaEm.«
Chloe drehte sich um. Sein Schurz und sein Kopfschmuck
glühten im Abendlicht. Sie neigte grüßend den Kopf.
»Wir werden morgen abend in Noph ankommen. Es tut mir leid, daß ich dir während des vergangenen Dekans kaum Gesellschaft geleistet habe, doch vielleicht erlaubst du mir, das heute abend gutzumachen?«
Ihr stockte der Atem, und er lachte,
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