Die Prophetin von Luxor
räusperte. Sie drehte sich um. Er hatte Amtstracht angelegt: schwere goldene Ohrringe, ein gold-weißes, gefälteltes Kopftuch mit dazu passendem Schurz und einen riesigen, juwelenbesetzten Kragen.
»Wir kommen jetzt nach Noph«, sagte er mit einem Topasblick in ihre Augen. »Dort werden wir in den Tempel gehen und feststellen, ob der Töpfer nicht heilen kann, was er erschaffen hat. Bitte mach dich bereit. Wir gehen nach dem Essen von Bord.« Er senkte den Kopf und spazierte davon, golden, gleißend, abweisend. Sofort konsultierte Chloe die »andere«, was sie anziehen sollte.
Noph war die Heimat des Gottes Ptah, der gemeinsam mit Chonsu auf einer Töpferscheibe den Menschen erschaffen hatte, daher der Name »Töpfer«. Es war zugleich eine der heiligsten Stätten in Ägypten und die frühere Hauptstadt. RaEms Gedächtnis lieferte ihr keine Details, was dort von ihr erwartet würde, deshalb steckte Chloe ihren Notizblock, ihr Skizzenbuch und ein Küchenmesser ein. Wieso, wußte sie nicht. Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn sie eines dabeihatte.
Das Boot legte am Kai an oder wenigstens so dicht am Kai wie möglich. Wie die Kreuzfahrtschiffe zu Chloes Zeiten waren die Boote hier nebeneinander vertäut, und die Passagiere aus den äußersten Booten mußten über und durch die anderen Schiffe steigen, wenn sie an Land wollten. Einer der Schiffssklaven nahm Chloes Korb, und sie folgte Cheftu, bis sie auf dem Kai standen.
Zum ersten Mal war sie mitten unter den Rekkit. Sie wußte, daß RaEm das zuwider gewesen wäre, doch sie war begeistert. Mit einem Mal fügten sich all die einzelnen Bruchstücke, die sie über Jahre hinweg von Cammy gehört hatte, zu einem Bild. Endlich verstand sie, was ihre Schwester so an diesen Menschen faszinierte, die das Leben so hochschätzten, daß sie es bis in alle Ewigkeit auf genau dieselbe Weise weiterleben wollten.
Die Katharsis der vergangenen Nacht hatte ihr eindeutig mehr Haltung verliehen, dachte sie.
Cheftus Hand auf ihrem Rücken brannte sich durch ihr Leinengewand, während er sie zu den wartenden Sänften führte. Zwar wäre sie lieber neben ihm auf dem Streitwagen gestanden, vor den zwei tänzelnde Braune gespannt waren, doch sie wußte, daß das ungehörig gewesen wäre. Trotzdem hatte sie den Vorhang ein Stück weit zurückgezogen.
Sie passierten die Schmucktore der Stadt. Der Torbalken war weit über ihnen, doch die anschließende Mauer war nur sehr niedrig. Noph war nie erobert worden, und das Tor diente weniger als Schutz denn als Umrahmung für den einzigartigen Tempel in der Stadtmitte.
Sie kamen über einen Marktplatz. Straßenhändler boten alles Erdenkliche feil, von kanaanitischen Orangen bis zu kleinen Ptahfiguren aus Erde, in die Getreide gepflanzt worden war. Angeblich konnte man damit die Ernte vorhersagen. Antike Kressefiguren, dachte Chloe schmunzelnd.
Alle paar Sekunden kam ein Essensverkäufer vorbei, und das Aroma seiner Waren wehte in der warmen Luft zu ihr herein. Wildbret wurde feilgeboten, gebraten oder frisch; in Honig gebackene kleine Kuchen mit Nüssen in der Mitte; der gepökelte Fisch, der Chloe und den meisten anderen Priestern verboten war; Obst und Sesamzuckerstangen. Es war fast wie in jedem Suk im Nahen Osten, abgesehen von einer drastischen Ausnahme: keine Kaffeeverkäufer und keine Radios.
Vor dem Tempel bogen sie nach rechts ab in eine breite Allee mit großen, weißgekalkten Wohnhäusern zu beiden Seiten. Um jedes war ein Zaun mit Tor gezogen, doch manche der Tore standen offen und boten den Vorbeikommenden einen kurzen Blick auf blühende Gärten und erfrischende Wasserbecken. Sie eilten dahin, bis die Hitze und das Schaukeln Chloe auf höchst unangenehme Weise ihren Magen in Erinnerung riefen. Gerade als sich ihr Mittagessen von ihr verabschieden wollte, hielten sie an.
War dies ein weiteres von Cheftus Häusern?
Chloe durchsuchte die Erinnerung der »anderen«, doch darin war nichts über Cheftus Leben und Familie zu finden. Offenbar
eine emotionale Erinnerung, dachte Chloe.
Ihr Zimmer im zweiten Stock war schlicht eingerichtet: eine Deckenumrandung und Paneele mit blauem Lotos waren auf die weißgekalkten Wände gemalt.
In der Ecke der Zimmerdecke waren Ba-Vögel zu sehen. Chloe trat näher. In der ägyptischen Gedankenwelt war der Ba Vogel ein Teil der Seele, der das Grab verlassen konnte, nachdem der Mensch gestorben war. Er wurde durch einen Vogelkopf mit dem Gesicht des Verstorbenen dargestellt. Sie lächelte
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