Die Prophetin von Luxor
Was hatte RaEm diesem stolzen Mann angetan, daß er weder vergeben noch vergessen konnte?
Irgendwann hatte sie ihn abgewiesen, soviel war Chloe klar. Aber warum? Sie schritt in ihrem kleinen Zelt auf und ab, bis die Stimmen der Mannschaft verstummt waren. Weil ihr das Zelt plötzlich zu eng und zu stickig vorkam, zog sie ihre Sandalen an und schlich ins Freie. Sie hatten am Ufer angelegt, darum eilte sie über die Laufplanke ans sandige Ufer. Sie schlug den Weg zu einem verlassenen Tempel rechts von ihr ein. Dann fiel ihr wieder ein, was geschehen war, als sie das letzte Mal in einem verfallenen Tempel gewesen war, und sie blieb stehen, lehnte sich an eine Mauer und sehnte sich nach einer Zigarette.
Und nach einer Stimme. Nach jemandem, der ihr verzweifeltes Weinen, ihren Zorn, ihre Einsamkeit hörte. Dies hier war etwas total anderes, als nur allein zu sein. In jeder Stadt, auf jedem Flug hatte sie die Gewißheit gehabt, daß stets andere Menschen in der Nähe waren. Sie mochten eine andere Nationalität oder Religion haben, doch sie hatten die gleichen Sorgen, Ängste und Freuden. O Gott, wieso war sie hier? Niemand erkannte sie hier. Niemand blickte hinter die Fassade, die er zu sehen erwartete. RaEmhetepet, die ruhmsüchtige, niederträchtige Priesterin.
Die Sterne standen riesig am Himmel. Als sie weiterging, begannen ihre Tränen zu fließen. Schließlich konnte sie nichts mehr sehen, sank in die Binsen, mummelte sich in ihr Nachtgewand und schluchzte. Sie weinte um die Familie und um die Freunde, die sie verloren hatte. Weinte, weil ihre Lage so aussichtslos war. Weinte um irgendeine Hilfe, Unterstützung, einen Fingerzeig.
Sie zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, doch es war eine sanfte Hand. Die nackte Brust, zu der die Hand sie herumdrehte, war breit, fest und ungemein tröstlich. Eine Männerhand strich über ihren Kopf, und Finger fuhren durch ihr Haar, während ihre lautlosen Tränen flossen und ihr Körper vor Kummer erbebte. Die Arme hielten sie ganz sanft, und als Chloes Tränen schließlich versiegten, spürte sie immer deutlicher die weiche warme Haut unter ihrer Wange, den festen Herzschlag neben ihrem Mund.
Sie drückte ihre Lippen auf die samtene Fläche und merkte, wie die Arme um sie herum fester zudrückten. Wie betäubt durch das Adrenalin, das durch ihren Körper flutete, setzte sie versuchsweise einen Kuß auf die breite Brust.
Der Mann holte tief Luft. Sie bekam eine Gänsehaut. Blindlings begann Chloe zu küssen, um ihre Einsamkeit zu erstik-ken. Langsam, mit weichen offenen Lippen auf der Haut ihres Trösters und die Arme fest um seinen Rücken geschlossen, schickte sie Feuer und Leidenschaft durch ihren Mund. Er stöhnte. Sie spürte, wie der Puls an seinem Hals schneller ging, und folgte dem unter der Haut verlaufenden Strom seines Blutes über seine Schulter und an seinem Arm hinab bis zu seiner Ellbeuge. Zärtlich leckte sie mit der Zungenspitze darüber.
»Süße Isis«, entfuhr es ihm heiser.
Chloe erstarrte, und das verzehrende Feuer in ihren Adern gefror zu Eis. Was zum Teufel war nur in sie gefahren, daß sie mit einem Fremden - korrigiere, einem antiken Fremden - im Unterholz poussierte, nur weil er so eindrucksvolle Brustmuskeln hatte? Verdammt! So verzweifelt war sie nicht! Der Fremde bemerkte ihren Stimmungsumschwung, und sie spürte starke Finger, die ihr Kinn anzuheben versuchten.
Sie zuckte zurück. Gleich darauf gab er ihr einen Kuß, nicht verlangend, nicht begehrend, sondern zart wie der Hauch einer Feder, und Chloe fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. Mit fest zugekniffenen Augen entwand sie sich seinem Griff, und die Arme gaben sie frei. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, rannte sie zurück aufs Schiff. Sie warf sich auf ihr Bett, um wieder zu Atem zu kommen und sich ein wenig abzukühlen, bevor sie ans Einschlafen auch nur denken konnte. Emotional verausgabt, doch physisch frustriert, warf und wälzte sie sich auf der ägyptischen Schlafliege hin und her, bis sie schließlich die Kopfstütze zu Boden warf und in sinnlichen Träumen versank, die von starken Armen handelten, heiserem Atem . und zwei goldenen Augen?
Als sie gegen Mittag wieder aufwachte, näherten sie sich einer großen Stadt auf dem linken Ufer. Über viele Henti hinweg waren Boote am Ufer vertäut, und die Felder waren grüner als alle, die sie bisher gesehen hatte. Während sie ihren Blick wandern ließ, hörte sie, wie sich Cheftu diskret hinter ihr
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