Die Prophetin
Rede stellen, deshalb zog sie sich an und folgte ihm. Im Flur entdeckte sie einen Zimmerkellner, der ihr sagte, der Mann, der gerade aus ihrer Suite gekommen war, habe ihn nach dem Fahrstuhl zur Dachterrasse gefragt. Dort oben sei ein Garten mit Springbrunnen und Tempeln.
Auf dem Dach waren nur wenige Gäste. Der Wüstenwind wehte so kalt und scharf, daß Catherine auf ihrem Weg zwischen den Farnen und Palmen unwillkürlich an Winter und Schnee dachte. Garibaldi stand am Geländer und blickte auf die Wüste, die hinter der hell erleuchteten Stadt wie ein endloses drohendes Reich der Dunkelheit begann. Ohne etwas zu sagen, stellte sie sich neben ihn.
Garibaldi brach das Schweigen. »Können Sie sich vorstellen, wie ich mich fühle, seit ich weiß, daß Sie das abstößt, was ich tue? Daß Pangamot Ihnen Angst macht? Daß ich Ihnen Angst mache?«
Unvermittelt sah er sie an. »Sie haben mich gefragt, warum ich bei Ihnen bleibe und nicht zu meinen Aufgaben zurückkehre. Ich werde Ihnen etwas sagen, das ich noch keinem Menschen gesagt habe, nicht einmal Vater Pulaski.« Seine Worte kamen schnell, als fürchte er, der Mut werde ihn verlassen. »Ich glaubte lange Zeit, der Vorfall in dem Laden sei Gottes Art gewesen, mich in seinen Dienst zu rufen. Ich dachte, er habe mich in diesem Augenblick dorthin gestellt, damit ich einen anderen Weg einschlagen würde, der mich zu ihm führt. Deshalb wurde ich Priester. Inzwischen kommen mir jedoch Zweifel, aber nicht an meinem Glauben, sondern an meiner Berufung.«
Er schwieg, als wollte er warten, wie sie darauf reagierte. Dann fuhr er fort: »Ich hatte den Alptraum jahrelang nicht mehr, aber dann kam er wieder. Er läßt mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich bin gezwungen, den Vorfall immer neu zu erleben. Selbst bei Tag verfolgt mich inzwischen das anklagende Gesicht des alten Mannes. Ich habe wie besessen versucht zu verstehen, was das zu bedeuten hat.«
»Ist es Ihnen gelungen?«
»Ich glaube, es ist mein Gewissen, das mich nach all den Jahren wieder quält.«
»Aber warum, Vater Garibaldi? Sie wissen nicht, ob Sie ihn hätten retten können.« Der Wind wurde noch heftiger. Catherine legte schützend die Arme vor den Oberkörper. Ihr war kalt, obwohl sie eine Jacke trug.
Garibaldi in seinem kurzärmligen Hemd schien die Kälte überhaupt nicht zu spüren.
»Darum geht es nicht! Wissen Sie, was ich am Tag meiner Priesterweihe empfand? Ich will es Ihnen sagen.
Ich empfand keine Freude oder religiösen Hochgefühle. Ich fühlte mich nur erleichtert. Ich hatte das Ge-fühl, mir sei endlich verziehen worden, daß ich an jenem Abend dem alten Mann nicht geholfen hatte. Aber du liebe Zeit, das ist kein Grund, Priester zu werden! Man wird Priester, weil man Gott dienen will, und nicht, weil man sich auf diese Weise vor seinen Schuldgefühlen verstecken kann! Ich versuchte, mir einzu-reden, indem ich Gott diene, mache ich mein Versagen an jenem Abend wieder gut. Aber das stimmt nicht!
So einfach ist das nicht. Ich habe die Gelübde abgelegt, um meine Seele zu retten. Ich bin aus egoistischen Motiven Priester geworden, und deshalb bin ich ein Betrüger.«
»Vater Garibaldi…«
»Ich habe Ihnen gesagt, ich hätte in Israel Urlaub gemacht. Das stimmt nicht. Ich befand mich auf einer persönlichen Pilgerreise. Ich bin nach Israel gegangen, um mein Gewissen zu erforschen und herauszufinden, ob ich geeignet sei, Priester zu bleiben. Ich kam in den Sinai und wurde in die Sache mit den neu entdeckten Schriftrollen hineingezogen, die möglicherweise Gottes Botschaft erhellen können. Und deshalb bin ich bei Ihnen geblieben. Ich wollte herausfinden, ob die Schriftrollen die Antwort auf meine Fragen enthalten.«
»Welche Antwort, Vater Garibaldi? Sollen die Schriftrollen Ihnen sagen, ob Sie Priester bleiben oder nicht?« Er erwiderte nichts.
»Wenn es das nicht ist«, rief sie, und der Wind trug ihre Stimme hinaus in die Wüste. »Was dann? Sagen Sie es mir!«
»Ich kann es nicht sagen, noch nicht. Vielleicht werde ich es nie können.«
»Vater Garibaldi, bitte lassen Sie mich Ihnen helfen.«
Er faßte sie plötzlich an den Schultern. Sie zuckte unter der Berührung zusammen, und er ließ sie wieder los. »Sie wollen mir wirklich helfen? Sie hassen Priester, und doch möchten Sie mir helfen?« Er blickte in den Himmel, betrachtete lange die Sterne und sah sie dann wieder an. »Wissen Sie, daß Sie ein Widerspruch in sich selbst sind? Sie behaupten, Gewalt zu verabscheuen, und doch
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