Die Prophetin
Seite hinunter. Die Fontänen!
Catherine erinnerte sich. Wenn Atlantis auseinanderbrach, stiegen Fontänen aus unsichtbaren Kratern auf.
Es gab also noch mehr Schächte auf der Insel. Sie mußte einen davon erreichen, bevor der Killer sie fand und die Insel im See versank. Sie rannte weiter. Vorsicht!
Sie schien den Schuß und das Einschlagen der Kugel vor sich gleichzeitig wahrzunehmen. Der Kopf einer Statue zersprang auf dem Boden. Verblüfft drehte sich Catherine um. Wer hat gerufen? Dann hörte sie einen Schrei, der nicht aus den Lautsprechern kam. Der Killer, der auf sie geschossen hatte, lag unter einem umgestürzten Plasikbaum. »Schnell weg hier!«
Eine Hand legte sich auf Catherines Schulter. Sie zuckte erschrocken zusammen, aber es war Garibaldi. Er packte sie am Arm und zog sie weiter.
Vor einem Springbrunnen befand sich der nächste Schacht. Garibaldi nahm die blaue Tasche und half ihr beim Einstieg. Dampf und Rauchwolken wirbelten durch die Luft, künstliche Lava strömte den Hügel herab, und ein Funkenregen ging auf die Insel nieder. Garibaldi folgte ihr hustend in die Dunkelheit. Noch bevor sie den Tunnel erreicht hatten, heulte schrill eine Sirene.
»Schnell! Kommen Sie!« Er zog sie mit sich. Im dunklen Gang brannte Licht. Es waren die Scheinwerfer eines Schienenfahrzeugs. Garibaldi half Catherine auf den Beifahrersitz und fuhr los. Als sie sich der Schleuse näherten, blinkte bereits die gelbe Warnleuchte. Hinter ihnen schloß sich fast lautlos das schwere Schleusentor. Nicht lange und über ihnen würde Atlantis versinken.
»Was ist mit dem Mann?« fragte Catherine.
»Er kann bestimmt schwimmen, und wenn nicht, muß er es lernen.«
Malibu, Kalifornien
Julius traute seinen Augen nicht. Er hatte es gefunden. Er war zufällig darauf gestoßen, während er etwas anderes suchte. Hier auf dieser Seite stand, was alle wissen wollten. Das Ende der Geschichte. Sabina Fabianas Schicksal. Er hatte das alte Buch von Rabbi Goldman ausgeliehen. Es war ein dickes, vor hundert Jahren erschienenes Werk. Zur damaligen Zeit war es vermutlich der umfassendste Katalog alter Dokumente, Schriftrollen, Kodizes, Handschriften und Briefe gewesen, die sich in Privatsammlungen befanden. Julius wußte, daß manche dieser Sammlungen so klein waren, daß es sich nicht gelohnt hatte, sie in die welt-weiten Datenbanken aufzunehmen. Während er die Einträge studiert hatte, weil er hoffte, auf die Titel alter Papyri zu stoßen, war ihm eine lateinische Handschrift aus dem Mittelalter mit dem Hinweis: >Thomas von Monmouth zugeschrieben, XII. Jahrhundert aufgefallen. Im reproduzierten Text sprang ihm sofort der Na-me Sabina Fabiana ins Auge.
Er war sicher, daß Catherine nichts von der Existenz dieses Pergaments wußte. Sie konnte es nicht über Internet ausfindig machen.
Er blickte ehrfürchtig auf die Buchseite mit dem Dokument. Sein Latein war schlecht, doch es reichte aus, um ihm zu verraten, daß er schließlich einen Weg gefunden hatte, Catherine zu helfen.
Doch anstatt erleichtert zu sein, war er plötzlich beunruhigt. Er fragte sich, ob er ihr überhaupt etwas von der Handschrift sagen sollte. Sein der Wissenschaft verpflichtetes Gewissen lag im Widerstreit mit seiner Liebe. Er hatte sich stets an strenge Prinzipien gehalten, und die wollte er nicht aufgeben. Aber ebensowe-nig wollte er Catherine im Stich lassen. Er billigte nicht, was sie tat; wenn er sie unterstützte, indem er ihr von diesem Dokument berichtete, widersprach das allen seinen Grundsätzen.
Das Telefon klingelte zweimal, und er hörte, wie sich sein Anrufbeantworter in der Küche einschaltete.
Nach dem Pfeifton meldete sich eine Frauenstimme: »Herr Dr. Voss, hier spricht Camilla Williams von der Nachrichtensendung Augenzeugen. Wir wüßten gerne, ob wir ein Liue-Interview mit Ihnen in unsere Sendung einplanen dürfen…«
Julius ging in die Küche und schaltete das Gerät ab. Er dachte kurz daran, den Stecker zu ziehen, tat es aber doch nicht. Es bestand immer die Möglichkeit, daß Catherine anrufen würde. Er wollte gerade ins Wohnzimmer und zu dem beunruhigenden Dokument zurückgehen, als er in der Glastür des Mikrowellenherds sein Spiegelbild sah. Es wunderte ihn nicht, daß er erschöpft aussah, aber über die dunklen Ringe unter den Augen und das leichenblasse Gesicht staunte er doch. Er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden kaum geschlafen, wenig gegessen und war wie von bösen Geistern gejagt von einem Computer zum anderen
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